Der Boden war hart und ließ sich schlecht lockern. Neben jedem Quadrat stand ein Eimer, der sich nur langsam mit Erde füllte. Volle Eimer wurden zu den aufgestellten Drahtgestellen getragen, wo die Uniformierten die Erde durchsiebten.
Diese mühsame Arbeit, bei der alle rasch ins Schwitzen gerieten, ging nur langsam voran. Nach einer Stunde waren erst acht Quadrate fünfzehn Zentimeter tief ausgehoben; nach kurzer Trinkpause ging die Arbeit an den restlichen sieben weiter. Nach über zwei Stunden hatten sie drei Gegenstände gefunden: ein altes Hundehalsband, eine Fünfcentmünze aus dem Jahr 1921 und eine leere Flasche. Halsband und Flasche wurden weggeworfen. Den Nickel, verkündete Yanis zur allgemeinen Erheiterung, würde der Stadtkämmerer erhalten. Dann fingen sie an, weitere fünfzehn Zentimeter tief zu graben.
Nach gut vier Stunden erfolgloser Arbeit entschied Yanis: »So, das war's, Leute. Wir machen eine Pause, dann nehmen wir uns das andere Grab vor.«
Die Ankündigung wurde mit müden Seufzern quittiert, denn alle stellten sich weitere vier bis fünf Stunden harter Arbeit vor.
Die zweite Grabung begann um 11.40 Uhr bei Mittagstemperaturen über fünfundzwanzig Grad. Nach eineinhalb stündiger Arbeit sagte Shirley Jasmund plötzlich ruhig: »Ich glaube, ich hab' was.«
Alle hörten zu arbeiten auf und sahen zu ihr hinüber.
Detective Jasmund drückte ihren Spaten vorsichtig in das von ihr aufgegrabene Quadrat. »Nicht sehr groß«, berichtete sie, »aber massiv. Vielleicht ein Stein.«
Ruby seufzte enttäuscht. Selbst wenn das kein Stein, sondern etwas anderes war, war es jedenfalls kein Messer.
»Dürfen wir weitermachen?« fragte der Sergeant der Spurensicherung.
Jasmund zuckte mit den Schultern, als sie ihm ihren Spaten überließ. »Wir machen die Arbeit, ihr erntet den Ruhm.«
»So ist das Leben, junge Frau!« Der Sergeant gab den Spaten einem seiner Leute, kniete dann nieder und grub den Gegenstand mit den Händen aus.
Der Fund war kein Stein. Obwohl noch Erde an ihm haftete, war er als Brosche aus Gold und Emaille zu erkennen -offensichtlich wertvoll.
Der Sergeant ließ die Brosche in einen Plastikbeutel fallen. »Die sehen wir uns im Labor näher an.«
»Okay, Leute«, sagte Yanis energisch. »Jetzt geht's weiter!«
Danach verging über eine Stunde, in der Rubys Stimmungsbarometer stetig nach unten sank. Sie hatte sich schon damit abgefunden, dieser Teil ihrer Nachforschungen werde ergebnislos verlaufen, als Andy Vosko vom Raubdezernat sich meldete.
»Ich hab' hier was«, sagte er und fügte hinzu: »Aber diesmal ist's größer.«
Wieder hörten alle zu arbeiten auf und sahen zu, wie der Sergeant der Spurensicherung den Gegenstand freilegte. Als er das Erdreich mit seiner kleinen Schaufel abtrug, wurden die Umrisse eines Messers sichtbar. Der Sergeant hielt es mit einer Zange hoch, damit eine Frau von der Spurensicherung die daran haftenden Erdreste mit einem Pinsel entfernen konnte.
»Ein Bowiemesser!« sagte Ruby atemlos, als sie den stabilen Holzgriff und die lange, leicht geschwungene, spitz auslaufende Klinge sah. »Doils charakteristische Tatwaffe!« Ihre Stimmung besserte sich schlagartig, und sie war Sandy Yanis für seine Hartnäckigkeit trotz ihrer eigenen kleinmütigen Zweifel dankbar.
Das Messer kam in einen weiteren Plastikbeutel. »Das sehen wir uns auch im Labor an«, sagte der Sergeant. »Klasse, Sandy!«
»Blutspuren oder Fingerabdrücke sind nach so vielen Jahren vermutlich nicht mehr festzustellen?« fragte Ruby.
»Bestimmt nicht«, antwortete der Sergeant. »Aber...« Er sah zu Yanis hinüber.
»Gestern«, sagte Yanis, »habe ich mir die Kleidungsstücke der Ikeis - Schlafanzug und Nachthemd - angesehen, in denen das Ehepaar ermordet worden ist; sie liegen noch bei uns in der Asservatenkammer. Daher weiß ich, daß sie durch die Kleidung erstochen worden sind, was bedeutet, daß an diesem Messer noch Gewebeteilchen haften können. Stimmen diese Partikel mit den anderen Geweben überein...« Er hob die Hände und ließ den Satz unvollendet.
»Ich habe eben etwas von Ihnen gelernt, das ich nicht gewußt habe«, sagte Ruby bewundernd.
»Wir lernen alle von ihm«, warf Jasmund ein. »Ständig.«
»Wir haben also gefunden, was Sie gesucht haben«, stellte Andy Vosko fest. »Hören wir auf, oder buddeln wir weiter?«
»Wir suchen weiter«, entschied Yanis. Das taten sie noch eine Stunde lang, ohne jedoch weitere Funde zu machen.
Ruby Bowe flog spät am Abend nach Miami zurück. Shirley Jasmund brachte sie zum Flughafen; Sandy Yanis fuhr mit. Als sie sich vor dem Abfluggebäude verabschiedeten, streckte Ruby impulsiv die Arme aus und umarmte beide.
12
»Also, wie lautet das Urteil?« fragte Malcolm Ainslie.
»Das Urteil lautet«, antwortete Ruby Bowe, »daß Elroy Doil die Wahrheit gesagt hat, als er Ihnen die Ermordung der Ehepaare Esperanza und Ikei gestanden hat. Gewiß, einige Details haben nicht ganz gestimmt, und einen Gegenstand hat er überhaupt nicht erwähnt, aber an den grundlegenden Tatsachen ändert das nichts.« Sie machte eine Pause. »Soll ich alles von Anfang an erzählen?«
»Ja, bitte.« Die beiden saßen am Morgen nach Rubys Rückkehr aus Tampa an Ainslies Schreibtisch.
Ruby berichtete, was ihre Nachforschungen bei der MetroDade Police und danach in Tampa ergeben hatten. »Heute früh bin ich zu Hause angerufen worden«, fügte sie hinzu. »Das Labor in Tampa hat an dem Messer Gewebeteilchen von der Kleidung der Ikeis gefunden - also ist's hundertprozentig die Tatwaffe gewesen. Und die Brosche aus dem Grab...« Sie warf einen Blick in ihre Notizen. »Die ist als japanische Cloisonne-Brosche identifiziert worden - sehr alt, sehr kostbar. Sandy Yanis vermutet, daß sie Elroy Doil einfach so gut gefiel, daß er sie mitgenommen hat.«
»Aber dann hat er Angst gehabt, sie könnte bei ihm gefunden werden«, schloß Ainslie, »und hat sie lieber auch vergraben.«
»Richtig. Also hat Doil doch nicht ganz die Wahrheit gesagt.«
»Aber was er mir erzählt hat, ist wahr gewesen - das haben Ihre Nachforschungen bestätigt.«
»Oh, hier habe ich noch etwas.« Ruby gab Ainslie Fotokopien des Briefumschlags, der nach Shirley Jasmunds Auskunft neben den Ikeis gelegen hatte - des Umschlags mit den sieben Siegeln, der eine Seite aus der Offenbarung des Johannes enthalten hatte. Ainslie studierte sie aufmerksam.
»Das ist Kapitel fünf«, sagte er nach einem Blick auf die herausgerissene Seite. »Drei Verse sind markiert.« Er las sie laut vor:
»>Und ich sah in der rechten Hand des, der auf dem Thron saß, ein Buch, beschrieben inwendig und auswendig, versiegelt mit sieben Siegeln.
Und ich sah einen starken Engel, der rief aus mit großer Stimme: Wer ist würdig, das Buch aufzutun und seine Siegel zu brechen?
Und einer von den Ältesten spricht zu mir: Weine nicht! Siehe, es hat überwunden der Löwe, der da ist vom Geschlecht Juda, die Wurzel Davids, aufzutun das Buch und seine sieben Siegel...««
Ainslie sah auf. »Typisch Doil«, stellte er fest. Und er dachte an sein Gespräch mit Pater Kevin O'Brien von der Gesu Church, der ihm geschildert hatte, wie Doil als Zwölfjähriger vom Alten Testament mit seinen Geschichten über heilige Kriege, den Zorn Gottes, Verfolgungen, Rache und Morde fasziniert gewesen war.
»Das paßt zu allem, was er viel später getan hat«, fügte Ainslie hinzu.
»Warum hat er diesen Bibeltext neben den Leichen zurückgelassen?« fragte Ruby.
»Das hat nur er selbst gewußt. Ich vermute, daß Doil sich als der Löwe von Juda gesehen hat, was ihn dann zu seinen Serienmorden veranlaßte.« Ainslie schüttelte bedauernd den Kopf, legte eine Hand auf die Fotokopien und sagte: »Hätten wir das hier früher gehabt und von dem Mord an dem Ehepaar Ikei gewußt, hätten wir Doil viel eher geschnappt.«