Dann entstand eine Pause, bis Ruby das Wort ergriff. »Sie haben gerade von >Serienmorden< gesprochen. Was bedeutet das für den Mordfall Ernst?«
»Der gehört nicht dazu.« Ainslie hatte noch Doils verzweifelten Aufschrei im Ohr: Ich hab' die anderen umgelegt, aber ich will mir nichts anhängen lassen, was ich nicht getan habe!
»Ob Doil die Wahrheit gesagt hat, ist bisher zweifelhaft gewesen«, sagte Ainslie. »Aber da er anscheinend nicht gelogen hat, müssen die Ermittlungen in der Mordsache Ernst wiederaufgenommen werden, glaube ich.«
»Im Fall Ernst wird ab sofort weiterermittelt«, entschied Leo Newbold. »Und wie's aussieht, haben Sie von Anfang an recht gehabt, Malcolm.«
Ainslie schüttelte den Kopf. »Das spielt keine Rolle. Die Frage ist nur: Wo fangen wir am besten an?« Die beiden saßen in Newbolds Büro, dessen Tür geschlossen war.
»Wir fangen damit an, daß wir alles streng vertraulich behandeln - und das möglichst lange.« Newbold zögerte, bevor er hinzufügte: »Das gilt sogar für die Mordkommission, und Sie sagen Ruby, daß sie mit niemandem darüber reden darf.«
»Das habe ich schon getan.« Ainslie musterte seinen Vorgesetzten neugierig. »Was denken Sie?«
Der Lieutenant schüttelte unsicher den Kopf. »Das weiß ich selbst nicht recht. Aber wenn der Mörder der Ernsts ein Nachahmungstäter gewesen ist - danach sieht's jetzt aus -, hat er bewußt einen der Serienmorde imitiert. Und dieser Täter hat verdammt viel über Doils Morde gewußt - weit mehr, als Presse und Fernsehen jemals berichtet haben.«
Ainslie wählte seine Worte sorgfältig. »Wollen Sie damit andeuten, daß jemand Insiderinformationen gehabt oder bewußt Informationen nach draußen weitergegeben hat?«
»Verdammt, ich weiß selbst nicht, was ich andeuten will! Ich weiß nur, daß ich schrecklich nervös bin und mich frage, ob jemand im Präsidium, vielleicht sogar in der Mordkommission mehr über den Fall Ernst weiß, als Sie und ich wissen.«
Newbold stand auf, trat ans Fenster, kam an den Schreibtisch zurück. »Sagen Sie bloß nicht, daß Sie das nicht auch denken, denn ich seh's Ihnen an!«
»Ja, das habe ich mir auch schon überlegt.« Ainslie machte eine Pause. »Ich glaube, ich sollte damit anfangen, alle Ermittlungsakten durchzugehen und festzustellen, welche Tatsachen wir bekanntgegeben und welche wir geheimgehalten haben. Dann können wir beurteilen, wie alles mit den Umständen im Fall Ernst zusammenpaßt.«
Newbold nickte. »Eine gute Idee, aber machen Sie das lieber nicht im Dienst. Sieht jemand die ganzen Akten herumliegen, könnte er erraten, was wir vorhaben. Nehmen Sie die Unterlagen mit nach Hause, und bleiben Sie ein paar Tage dran. Ich vertrete Sie hier inzwischen.«
Ainslie war verblüfft. Er hatte vorsichtig sein wollen - aber nicht so sehr, daß er seinen Kollegen mißtraute. Trotzdem hatte Newbold vermutlich recht. Außerdem kamen viele Leute - auch Außenstehende - zur Mordkommission, und alle Besucher interessierten sich dafür, was hier vorging.
An diesem Abend fuhr Ainslie mit fünf überquellenden Aktenordnern, die er unauffällig ins Auto geschafft hatte - je einen für die Morde an den Ehepaaren Ernst, Larsen, Hennenfeld, Urbina und Ernst -, nach Hause und war darauf vorbereitet, sie pedantisch genau durchzuarbeiten.
»Ich weiß nicht, warum du zu Hause arbeitest«, sagte Karen am nächsten Tag, »aber es ist schön, dich mit deinem Papierkram hier sitzen zu sehen. Kann ich dir irgendwie helfen?«
Malcolm sah dankbar auf. »Könntest du einige meiner Notizen abtippen und ausdrucken?«
Als Jason aus der Schule heimkam, freute er sich genauso über die Anwesenheit seines Vaters. Er setzte sich zu ihm an den Eßtisch und schob einige Ermittlungsakten beiseite, um Platz für seine Hausaufgaben zu haben. Während die beiden nebeneinander arbeiteten, stellte Jason immer wieder Fragen: »Dad, hast du gewußt, daß jede Zahl durch neun teilbar ist, wenn ihre Quersumme durch neun teilbar ist? Findest du das nicht merkwürdig?«... »Dad, hast du gewußt, daß der Mond nur dreihundertfünfundachtzigtausend Kilometer entfernt ist? Glaubst du, daß ich mal hinfliegen kann, wenn ich groß bin?«... Und zuletzt: »Dad, warum sind wir nicht immer so zusammen?«
Ainslie brauchte zwei volle Tage, um die nach Hause mitgenommenen Ermittlungsakten genau durchzuarbeiten, sich Notizen zu machen und schließlich eine Liste aller auffälligen Details zu erstellen, aber als er damit fertig war, konnte er einige wichtige Schlußfolgerungen ziehen.
Er begann mit einer Überprüfung der Tatumstände, die vor den Medien geheimgehalten worden waren - immer in der Hoffnung, ein Verdächtiger könnte sich selbst belasten, indem er solche Einzelheiten erwähnte. Zu diesen Details gehörte die Serie bizarrer Gegenstände - von den vier toten Katzen angefangen -, die bei den Opfern zurückgelassen worden waren. Die laute Radiomusik an allen Tatorten war ebenso geheimgehalten worden wie das Detail, daß die Ermordeten sich gefesselt und geknebelt gegenübergesessen hatten. Während bekannt war, daß in allen Fällen Geld verschwunden ist, wußte niemand, daß mehrmals wertvoller Schmuck liegengelassen wurde.
Manche Reporter hatten jedoch private Informationsquellen bei der Polizei, und was sie inoffiziell erfuhren, wurde unweigerlich gedruckt oder gesendet. Das warf zwei Fragen auf: Hatten die Medien es erstens geschafft, alles über die vier Doppelmorde vor der Ermordung des Ehepaars Ernst zu berichten? Das hielt Ainslie für sehr unwahrscheinlich. Und konnte es zweitens, wie Leo Newbold angedeutet hatte, im Police Department ein bewußtes oder unabsichtliches Leck geben? Davon war Ainslie schon eher überzeugt.
Als nächstes stellte Ainslie sich die Frage: Gibt es Unterschiede zwischen dem Mord an Gustav und Eleanor Ernst und den übrigen Morden Doils? Ja, es gab mehrere.
Einer betraf die Radios, die an allen Tatorten angestellt zurückgelassen worden waren. Im Mordfall Frost im Royal Colonial Hotel war das Radio auf HOT 105 eingestellt gewesen und hatte harte Rockmusik gespielt - das Standardrepertoire dieses Senders. Der nächste Fall war der Mord an Hal und Mabel Larsen in Clearwater, und weil in den Akten nichts von einem Radio stand, telefonierte Ainslie mit Detective Nelson Abreu, der die Ermittlungen geleitet hatte. »Nein«, antwortete sein Kollege, »soviel ich weiß, ist kein Radio angestellt gewesen. Aber ich frage nach und rufe Sie zurück.« Das tat er nach etwa einer Stunde.
»Ich habe eben mit dem Streifenpolizisten gesprochen, der als erster am Tatort gewesen ist«, berichtete Abreu. »Dort hat ein Radio gespielt, laute Rockmusik, sagt er jetzt, und der Idiot hat es ausgestellt und kein Wort darüber verloren. Er ist noch ziemlich jung, und ich habe ihn anständig zusammengestaucht. Ist diese Sache mit dem Radio wichtig?«
»Schwer zu sagen«, antwortete Ainslie, »aber ich bin Ihnen dankbar, daß sie ihr nachgegangen sind.«
Abreu interessierte der Grund für diese Nachforschungen. »Die Angehörigen haben sich erkundigt, ob Doils Täterschaft im Fall Larsen eindeutig feststeht. Können Sie das bestätigen?«
»Vorerst nicht, aber ich sage meinem Lieutenant, daß Sie auf dem laufenden gehalten werden möchten, falls sich etwas Neues ergibt.«
Abreu lachte halblaut. »Ah, ich verstehe! Sie wissen etwas, das Sie nicht erzählen dürfen.«
»Sie sind vom Fach«, sagte Ainslie. »Sie kennen sich mit solchen Dingen aus.«
Er wußte, daß Doils Raiforder Geständnis bisher zurückgehalten worden war, und konnte nur hoffen, es werde zunächst weiter vertraulich behandelt. Aber um des Seelenfriedens der Hinterbliebenen willen würden irgendwann alle Einzelheiten veröffentlicht werden müssen.
Nach den Larsens war das Ehepaar Irving und Rachel Hennenfeld in Fort Lauderdale ermordet worden. Bei seinem dienstlichen Besuch in Miami hatte Sheriff-Detective Benito Montes berichtet, auch am dortigen Tatort habe ein Radio gespielt - »so gottverdammt laute Rockmusik, daß man sein eigenes Wort nicht verstehen konnte«.