Beim vorhergehenden Besuch hatte Ruby berichtet: »Die Ernsts haben es anscheinend nicht über sich gebracht, irgendein Stück Papier wegzuwerfen. Sie haben alles aufgehoben - alte Briefe, Rechnungen, Notizen, Zeitungsausschnitte, Einladungen und so weiter -, und diese Kartons sind voll davon.«
Ainslie hatte ihr erklärt: »Ich habe mit Hank Brewmaster gesprochen, der anfangs die Ermittlungen geleitet hat. Überall im Haus haben unglaubliche Papiermengen gelegen - in unzähligen Schachteln in fast allen Räumen. Einerseits hat niemand Zeit gehabt, das Zeug zu sichten, und andererseits hätte es als Beweismaterial wichtig sein können. Deshalb ist alles abtransportiert worden, und später ist niemand mehr dazugekommen, sich damit zu befassen.«
Diesmal hatte Ruby ein zerfleddertes altes Schreibheft vor sich liegen und machte sich auf einem Block Notizen.
Ainslie zeigte auf eine geöffnete Schachtel und fragte dabei: »Immer derselbe unwichtige Kram?«
»Nein«, sagte Ruby. »Ich bin auf etwas Interessantes gestoßen, glaube ich.«
»Tatsächlich?«
»Viele dieser Aufzeichnungen stammen von Mrs. Ernst - in krakeliger Handschrift und schwer zu lesen. Völlig belanglos, habe ich geglaubt, bis ich vorgestern ihr Tagebuch entdeckt habe. Sie hat es in Schulhefte geschrieben - in viele Hefte, die Jahre zurückreichen.«
»Wie viele?«
»Zwanzig, dreißig, vielleicht mehr.« Ruby deutete auf die Schachtel. »Die ist randvoll gewesen. Ich vermute, daß es noch mehr gibt.«
»Was steht in den Tagebüchern?«
»Nun, das ist ein Problem. Mrs. Ernst hat nicht nur miserabel geschrieben, sondern auch eine Art Code, eine persönliche Kurzschrift benutzt. Um das Geschriebene geheimzuhalten, nehme ich an - besonders vor ihrem Mann, vor dem sie die Tagebücher offenbar immer versteckt hielt. Aber wer genug Geduld hat, kann lernen, sie zu lesen.«
Ruby deutete auf die vor ihr liegenden zerfledderten Seiten. »Zum Beispiel nennt sie keine Namen, sondern ersetzt sie durch Zahlen. Nach einiger Zeit habe ich gemerkt, daß >5< sie selbst und >7< ihren Mann bezeichnet. Ein ganz einfacher Code - das >E< wie Eleanor ist der fünfte Buchstabe des Alphabets, das >G< wie Gustav der siebte. Zahlen mit Bindestrichen bedeuten Doppelnamen, so daß >4-18-23< einen >Dr. W< bezeichnet, wer immer er gewesen ist oder sein mag. Und sie komprimiert die Wörter, kürzt sie ab und läßt vor allem die Vokale aus. Ich finde mich allmählich zurecht, aber die Lektüre ist zeitraubend.«
Ainslie wußte, daß er eine Entscheidung treffen mußte. War es zu vertreten, Ruby diese mühsame Suche, die endlos dauern konnte und wahrscheinlich ergebnislos bleiben würde, fortsetzen zu lassen? »Können Sie mir schon irgendwas sagen?« fragte er sie. »Irgend etwas Wichtiges?«
Ruby überlegte kurz. »Ja, es gibt etwas, das ich zurückgehalten habe, weil ich erst mehr darüber wissen wollte.« Ihre Stimme klang plötzlich schärfer. »Was halten Sie von folgender Entdeckung? Die Tagebücher zeigen bereits, daß unser verstorbener großmächtiger City Commissioner Gustav Ernst seine Frau auf übelste Weise mißhandelt hat. Er hat sie seit ihrer Hochzeit immer wieder verprügelt, so daß sie mindestens einmal ins Krankenhaus mußte. Aber Eleanor hat immer geschwiegen - vor Angst und Scham und weil sie gedacht hat, niemand würde ihr glauben, wie dieser Schweinehund von einem Ehemann ihr eingeredet hat. Das steht alles hier drin!«
Sie holte tief Luft. »Oh, verdammt! Wie ich diesen Scheiß hasse!« Sie griff impulsiv nach einem der Hefte und warf es quer durch den Raum.
Nach einer kurzen Pause hob Ainslie das Heft auf und legte es auf den Schreibtisch zurück. »Sie hat vermutlich recht gehabt; vielleicht hätte ihr niemand geglaubt - nicht in der damaligen Zeit, als niemand von mißhandelten Frauen gesprochen hat, weil die Leute einfach nichts davon wissen wollten. Glauben Sie das alles?«
»Jedes Wort.« Ruby hatte sich wieder beruhigt. »So eine Menge Einzelheiten kann sie nicht erfunden haben, und alles klingt sehr überzeugend. Vielleicht sollten Sie auch mal einen Blick hineinwerfen.«
»Das tue ich später«, sagte Ainslie, der sich auf ihr Urteil verließ.
Ruby betrachtete nachdenklich das vor ihr liegende Heft. »Ich denke, Mrs. Ernst hat gewußt, vielleicht sogar gehofft, daß ihre Aufzeichnungen eines Tages gelesen werden würden.«
»Haben Sie irgendwelche Hinweise auf...« Ainslie sprach nicht weiter, weil er merkte, daß die Frage überflüssig war. Hätte es solche Hinweise gegeben, hätte Ruby sie erwähnt.
»Sie denken an Cynthia, nicht wahr?«
Er nickte wortlos.
»Ich denke auch an sie, aber bisher kommt sie nicht vor. Diese Tagebücher hier stammen aus den ersten Ehejahren. Cynthia ist noch nicht geboren; später wird ihre Mutter sie als >3< erwähnen.«
Ihre Blicke trafen sich.
»Sie machen weiter, Ruby«, entschied Ainslie. »Sie lassen sich soviel Zeit, wie Sie brauchen, und rufen mich an, wenn Sie mir etwas mitzuteilen haben.« Er bemühte sich, seinen Verdacht zu unterdrücken, aber das wollte ihm nicht gelingen.
Danach dauerte es fast zwei Wochen, bis Ruby Bowe ihn erneut anrief. »Können Sie zu mir runterkommen? Ich möchte Ihnen einiges zeigen.«
»Was ich entdeckt habe«, sagte Ruby, »ändert vieles, obwohl die Folgen noch nicht ganz abzusehen sind.«
Die beiden befanden sich wieder in dem winzigen fensterlosen Raum voller Papiere. Ruby saß an ihrem kleinen Schreibtisch.
»Bitte weiter«, drängte Ainslie, der sich bewußt war, lange genug gewartet zu haben.
»Cynthia ist auf der Bildfläche erschienen. Innerhalb einer Woche nach ihrer Geburt hat Mrs. Ernst ihren Mann bei sexuellen Spielen mit dem Baby ertappt. Hier, so hat sie's geschildert.« Ruby schob ihm ein aufgeschlagenes Heft hin und deutete auf eine Seite. Ainslie kniff die Augen zusammen, während er sich bemühte, Mrs. Ernsts private Kurzschrift zu enträtseln.
»Am besten lesen Sie's mir vor«, sagte er dann. »Ich sehe, daß man die meisten Wörter nur ergänzen muß, aber das können Sie schneller.«
Ruby las laut vor:
»Heute habe ich gesehen, wie Gustav meine Cynthia berührt hat, kann nur sexuell gewesen sein. Er hat ihre Windel entfernt und sie angestarrt. Ohne zu wissen, daß ich ihn beobachte, hat er sich über sie gebeugt und etwas Unaussprechliches getan. Ich bin so empört und in Sorge um Cynthia gewesen! Wird ihr Vater, dieser Perverse, dem eigenen Kind nachstellen? Ich habe ihm erklärt, daß mir egal ist, was er mir antut, aber daß er Cynthia nie mehr anrühren darf, weil ich sonst zu den Kinderschutzleuten gehe, die ihn hinter Gitter bringen können.
Er hat sich offenbar nicht geschämt, aber versprochen, es nicht mehr zu tun. Ich weiß nicht, ob ich ihm glauben kann, er ist so verdorben! Kann ich Cynthia vor ihm schützen? Auch das ist zweifelhafte«
Ohne Ainslies Reaktion abzuwarten, fuhr Ruby fort: »Ähnliche Eintragungen wiederholen sich in den folgenden Monaten, und trotz Mrs. Ernsts Drohung ist klar, daß sie nie etwas unternommen hat. Nach eineinhalb Jahren findet sich diese Eintragung.« Sie schob ihm ein weiteres Heft hin und zeigte auf die Stelle, die sie meinte.
Ainslie forderte sie mit einer Handbewegung auf, den verschlüsselten Text vorzulesen. Sie zog das Schreibheft wieder zu sich heran.
»>Ich habe Gustav immer wieder gewarnt, aber er macht trotzdem weiter und tut Cynthia manchmal weh, so daß sie aufschreit. Als ich ihm Vorhaltungen gemacht habe, hat er abgewehrt: 'Das hat nichts zu bedeuten. Nur ein bißchen Zärtlichkeit von ihrem Da.' Ich habe ihm erklärt: 'Nein, das ist widernatürlich. Sie haßt es, und sie haßt dich. Sie hat Angst vor dir.' Kommt er jetzt in ihre Nähe, weint sie, krümmt sich schutzsuchend zusammen und weicht vor ihm zurück. Ich drohe ihm immer wieder damit, jemanden anzurufen - das Jugendamt, die Polizei oder sogar unseren Dr. W. -, aber Gustav lacht darüber, weil er nur allzugut weiß, daß ich das nicht über mich brächte, und damit hat er recht. Die Schande wäre zu schrecklich. Wie könnte ich den Leuten danach noch unter die Augen treten? Ich kann mit keinem Menschen darüber reden -nicht einmal um Cynthias willen. Cynthia und ich werden diese schwere Bürde allein tragen müssen.<«