»Schockiert Sie das?« fragte Ruby.
»Nach neun Jahren bei der Mordkommission schockiert mich nichts mehr, aber mir macht Sorgen, wie die Geschichte weitergehen wird. Sie geht weiter, nicht wahr?«
»Natürlich.« Ruby blätterte in ihren Notizen. »Als nächstes ist er zu Mißhandlungen übergegangen. Als Cynthia drei war, hat Gustav angefangen, sie zu schlagen - >wegen irgendwelcher Kleinigkeiten, manchmal völlig grundlos<, berichtet das Tagebuch. Er hat ihr Weinen nicht leiden können und einmal >zur Strafe< ihre Füße in kochendheißes Wasser gesteckt. Mrs. Ernst hat Cynthia ins Krankenhaus gebracht und die Verbrühungen als Unfall ausgegeben. Sie hat festgehalten, daß niemand ihr geglaubt habe - aber passiert ist trotzdem nichts.
Als die Kleine dann acht gewesen ist, hat Gustav sie zum ersten von vielen Malen vergewaltigt. Danach ist Cynthia vor jedem zurückgeschreckt, der sie berühren wollte - auch vor ihrer Mutter -, als habe sie Angst vor jeglicher Berührung.« Rubys Stimme versagte. Sie trank einen Schluck Wasser aus einem Glas und deutete auf einen Stapel Schulhefte. »Das steht alles dort drin.«
»Möchten Sie eine Pause machen?« fragte Ainslie.
»Ich denke schon.« Ruby ging zur Tür und murmelte dabei: »Ich bin gleich zurück.«
Ainslies Gedanken befanden sich in wildem Aufruhr. Er hatte die erregende Affäre mit Cynthia nicht aus seinem Gedächtnis gestrichen, würde es auch nie tun. Trotz ihrer Verbitterung über seinen Entschluß, sich von ihr zu trennen, und ihrer späteren absichtlichen Sabotage seiner Karriere hatte er Cynthia noch immer gern und würde ihr seinerseits nie schaden wollen. Und seit er diese neuen Tatsachen erfahren hatte, galt sein ganzes Mitleid dem armen kleinen Mädchen. Wie konnten vermeintlich zivilisierte Eltern das eigene Kind mißhandeln und mißbrauchen - der Vater aus perverser Lust, die Mutter so rückgratlos, daß sie nicht das geringste unternahm, um ihrer Tochter zu helfen?
Dann wurde leise die Tür geöffnet, und Ruby kam hereingeschlüpft. Ainslie musterte sie prüfend und fragte: »Schaffen Sie's weiterzumachen?«
»Ja, ich möchte die Sache hinter mich bringen. Vielleicht ziehe ich heute abend los und besaufe mich, um alles vergessen zu können.«
Aber er wußte, daß sie das nicht tun würde. Da ihr Vater tragischerweise von einem fünfzehnjährigen Junkie erschossen worden war, gab es für Ruby keine Drogen - auch keinen Alkohol. Daran würde diese Geschichte nichts ändern.
»Das Unvermeidliche ist passiert, als Cynthia zwölf war«, fuhr Ruby fort. »Sie ist von ihrem Vater schwanger geworden. Am besten lese ich Ihnen vor, was Mrs. Ernst darüber geschrieben hat.«
Diesmal zeigte sie ihm nicht das verschlüsselte Tagebuch, sondern las direkt aus ihrer Transkription vor.
»>In dieser schrecklichen, schändlichen Situation sind die nötigen Vorbereitungen getroffen worden. Gustavs Anwalt L. M. hat dafür gesorgt, daß Cynthia in Pensocola unter einem anderen Namen in einer diskreten Privatklinik liegt, zu der er Verbindung hat. Nach Auskunft der Ärzte muß Cynthia das Kind bekommen, weil bei so fortgeschrittener Schwangerschaft kein Abbruch mehr zulässig ist. Sie bleibt in der Klinik, bis es soweit ist. L. M. sorgt auch für eine sofortige Adoption des Babys; ich habe ihm gesagt, daß uns egal ist, wer es nimmt, solange unsere Identität geheimgehalten wird. Cynthia bekommt ihr Kind nicht zu sehen und hört nie wieder von ihm - und wir auch nicht. Gott sei Dank!
Vielleicht hat diese Sache sogar noch etwas Gutes. Bevor L. M. bereit gewesen ist, den Fall zu übernehmen, hat er Gustav gründlich die Meinung gesagt. Er hat gesagt, Gustav widere ihn an, und Ausdrücke benutzt, die ich nicht wiederholen will. Und er hat ihm ein Ultimatum gestellt: Hört Gustav nicht endgültig auf, Cynthia zu mißbrauchen, zeigt L. M. ihn an und sorgt dafür, daß er für Jahre hinter Gitter muß. L. M. hat ihm gedroht, das meine er ernst, und wenn das die einzige Möglichkeit sei, 'dann zum Teufel mit dem Anwaltsgeheimnis'! Gustav hat richtig Angst gehabt.<
Einige Zeit später wird erwähnt, daß Cynthia ihr Kind bekommen hat«, sagte Ruby. »Keine weiteren Informationen, nicht mal das Geschlecht des Babys. Dann ist Cynthia heimgekehrt, und wenig später findet sich in Mrs. Ernsts Tagebuch folgende Eintragung:
>Trotz unserer Vorsichtsmaßnahmen muß sich irgend etwas herumgesprochen haben. Eine Frau vom Jugendamt hat mich aufgesucht. Ihre Fragen haben gezeigt, daß sie nicht alles wußte, aber darüber informiert war, daß Cynthia mit zwölf Jahren ein Kind bekommen hatte. Das mußte ich zugeben, weil es nicht zu leugnen war; ansonsten habe ich gelogen. Ich habe behauptet, der Vater des Kindes sei uns unbekannt, aber Gustav und ich seien seit längerer Zeit besorgt gewesen, weil Cynthia sich mit allen möglichen Jungen herumgetrieben habe. In Zukunft würden wir sie strenger beaufsichtigen.
Ich weiß nicht, ob sie mir das alles abgenommen hat, aber sie konnte meine Aussage natürlich nicht widerlegen. Daß diese Leute in alles ihre Nase stecken müssen!
Als die Frau gegangen war, habe ich entdeckt, daß Cynthia uns belauscht hatte. Wir haben kein Wort miteinander gesprochen, aber Cynthia hat mich wild angefunkelt. Sie haßt mich, fürchte ich.<«
Ainslie schwieg, denn seine Gedanken waren zu komplex, um ausgedrückt zu werden. Vor allem empfand er überwältigenden Abscheu, weil weder Gustav noch Eleanor Ernst auch nur einen Gedanken auf das Wohlergehen des Neugeborenen verschwendet hatten - ihr Enkel oder ihre Enkelin; sein Sohn oder seine Tochter, was ihnen anscheinend beiden egal gewesen war.
»Danach habe ich viel übersprungen«, fuhr Ruby fort, »und ihre Tagebücher aus Cynthias Jugendjahren nur noch überflogen. Ich habe nicht alle lesen können; vielleicht tut das nie jemand. Aber sie zeigen, daß Gustav Ernst Cynthia nicht mehr nachgestellt und sie statt dessen gefördert hat - in der Hoffnung, sie werde >vergeben und vergessen<, wie seine Frau schreibt. Er hat ihr viel Geld gegeben - davon hatte er reichlich. Und als Cynthia zur Miami Police gegangen ist, hat er seinen Einfluß als City Commissioner genutzt, um sie in die Mordkommission zu bringen und dann rasch befördern zu lassen.«
»Cynthia hat sehr gut gearbeitet«, stellte Ainslie fest. »Sie hätte es auch ohne Protektion weit gebracht.«
Ruby zuckte mit den Schultern. »Mrs. Ernst hat vermutet, das habe genutzt, aber andererseits nicht geglaubt, Cynthia werde Gustav oder ihr jemals für irgend etwas dankbar sein.« Sie blätterte in ihren Aufzeichnungen. »Hier ist etwas, das Mrs. Ernst vor vier Jahren geschrieben hat:
>Gustav lebt in einer Welt voller närrischer Illusionen. Er bildet sich ein, zwischen uns beiden und Cynthia sei alles in bester Ordnung, weil wir die Vergangenheit hinter uns gelassen haben, und Cynthia empfinde nun sogar Zuneigung für uns. Was für Unsinn! Cynthia liebt uns nicht. Warum sollte sie auch? Wir haben ihr nie Grund dazu gegeben. Nachträglich wünsche ich mir oft, ich hätte manches anders gemacht. Aber nun ist's zu spät. Für alles zu spät.<
Zuletzt möchte ich Ihnen einen Tagebucheintrag vorlesen, der vielleicht der wichtigste ist«, fuhr Ruby fort. »Vier Monate vor ihrer Ermordung hat Mrs. Ernst folgende Befürchtungen zu Papier gebracht: