>Ich habe Cynthia manchmal dabei ertappt, daß sie uns anstarrt. Aus ihrem Blick scheint finsterer Haß auf uns beide zu sprechen. Für Cynthias Wesensart ist charakteristisch, daß sie nie etwas verzeiht. Niemals! Sie verzeiht niemandem auch nur die geringste Kränkung. Sie rächt sich irgendwann dafür, zahlt es dem Betreffenden heim. Bestimmt ist sie durch unsere Schuld so geworden. Manchmal glaube ich, daß sie etwas mit uns vorhat, um sich an uns zu rächen, und habe Angst. Cynthia ist sehr clever, viel cleverer als wir beide.<«
Ruby legte ihre Notizen weg. »Ich habe erledigt, was Sie mir aufgetragen haben. Jetzt ist nur noch eine Sache übrig.« Ihr Gesichtsausdruck wurde weicher, als sie Ainslies bekümmerte Miene sah. »Für Sie muß das alles sehr schwer gewesen sein, Sergeant.«
»Wie meinen Sie das?« fragte er unsicher.
»Malcolm, wir wissen alle, warum Sie nicht zum Lieutenant befördert worden sind. Sie könnten wahrscheinlich schon Captain sein.«
Er seufzte resigniert. »Dann wissen Sie also, daß Cynthia und ich... « Er sprach nicht weiter.
»Natürlich. Wir haben's alle schon damals gewußt. Wir sind schließlich Kriminalbeamte, oder?«
Unter anderen Umständen hätte Ainslie vielleicht gelacht. Aber jetzt hing etwas Unausgesprochenes drohend in der Luft.
»Was gibt's noch?« fragte er. »Sie haben von einer Sache gesprochen. Welche meinen Sie?«
»In der Asservatenkammer steht noch ein verschlossener Karton aus dem Haus des Ehepaars Ernst, auf dem aber Cynthias Name steht. Sie scheint ihn bei ihren Eltern aufbewahrt zu haben, und er ist mit dem übrigen Zeug sichergestellt worden.«
»Haben Sie nachgesehen, wer ihn eingeliefert hat?«
»Sergeant Brewmaster.«
»Dann gehört er zum Beweismaterial, und wir sind berechtigt, ihn zu öffnen.«
»Ich hole ihn«, sagte Ruby.
Der große Karton, den Ruby hereinbrachte, glich den anderen und war ebenfalls mit Klebeband mit dem Aufdruck TATORTMATERIAL verschlossen. Aber unter diesem breiten Klebeband wurde ein blauer Klebstreifen sichtbar, der das wiederholte Monogramm »C. E.« trug und an mehreren Stellen mit Siegelwachs fixiert war.
»Diesen Streifen vorsichtig abziehen und aufheben«, wies Ainslie Ruby an.
Einige Minuten später hatte Ruby den Karton geöffnet und klappte die Deckelteile zurück. Sie sahen hinein und stellten fest, daß der Karton mehrere Klarsichtbeutel mit je einem Gegenstand enthielt. Obenauf lag ein Plastikbeutel mit einer Schußwaffe, die ein Revolver Smith & Wesson Kaliber 38 zu sein schien. Die beiden Beutel darunter enthielten je einen Sportschuh, die beide Flecken aufwiesen. In einem vierten Plastikbeutel steckte ein T-Shirt mit ähnlichen Flecken. Die tiefste Lage bildeten weitere Klarsichtbeutel, darunter einer mit einer Tonbandkassette. Jeder Beutel trug einen beschrifteten Aufkleber, und Ainslie erkannte sofort Cynthias Handschrift.
Er konnte kaum glauben, was er vor sich sah.
»Wie kommt dieses Zeug hierher?« fragte Ruby erstaunt.
»Nur aus Versehen. Es ist im Haus der Ernsts versteckt gewesen und irrtümlich mit dem ganzen anderen Material sichergestellt worden.« Ainslie fügte hinzu: »Vorsicht, nichts anfassen, aber vielleicht können Sie lesen, was auf dem Beutel mit dem Revolver steht.«
Ruby beugte sich darüber. »Hier ist vermerkt: >Die Waffe, mit der P. J. seine Exfrau Naomi und ihren Freund Kilburn Holmes erschossen hat.< Und darunter steht ein Datum - der 21. August vor sechs Jahren.«
»O Gott!« flüsterte Ainslie.
»Das verstehe ich nicht.« Sie richtete sich auf und starrte ihn an. »Was sind das für Sachen?«
»Beweisstücke aus einem ungelösten Mordfall«, antwortete er grimmig. »Aus einem bisher ungelösten Mordfall.«
Obwohl die damaligen Ermittlungen nicht von Ainslies Team durchgeführt worden waren, erinnerte er sich wegen Cynthias langjähriger Verbindung mit dem Schriftsteller Patrick Jensen gut an diesen Mordfall. Er rief sich ins Gedächtnis zurück, daß Jensen unter dringendem Tatverdacht gestanden hatte, nachdem seine Exfrau und ihr junger Freund mit einer Waffe des Kalibers 38 erschossen worden waren. Jensen hatte zwei Wochen vor der Tat einen Revolver Smith & Wesson Kaliber 38 gekauft; er behauptete jedoch, ihn verloren zu haben, und die Tatwaffe wurde nie gefunden. Wegen Mangels an Beweisen wurde keine Anklage gegen ihn erhoben.
Eine Frage drängte sich auf: War der Revolver in dem eben geöffneten Karton die verschwundene Waffe? Und: Warum hatte Cynthia diese Beweisstücke, falls es wirklich welche waren, gekennzeichnet und dann sechs Jahre lang bei sich versteckt? Für eine erfahrene Kriminalbeamtin wie Cynthia war die Kennzeichnung von Beweismaterial eine Routinesache. Nicht jedoch die Unterschlagung von Beweisstücken.
Rubys Stimme riß Ainslie aus seinen Gedanken. »Hängt dieser >ungelöste Mordfall< irgendwie mit dem Fall Ernst zusammen?«
Das war die nächste Frage, die auch Ainslie sich schon gestellt hatte. Es gab endlos viele Fragen. Hatte Patrick Jensen etwas mit der Ermordung des Ehepaars Ernst zu tun? Und hatte Cynthia ihm geholfen, dieses Verbrechen ebenso wie den Doppelmord vor sechs Jahren zu vertuschen?
Ein Gefühl tiefer Niedergeschlagenheit erfaßte Ainslie, während er über diese Möglichkeiten nachdachte. »Im Augenblick läßt sich nichts Bestimmtes sagen«, erklärte er Ruby. »Als erstes brauchen wir die Spurensicherung, damit sie den Inhalt dieses Kartons unter die Lupe nimmt.«
Er griff nach dem Hörer des einzigen Telefons in diesem winzigen Raum.
VIERTER TEIL. DIE VERGANGENHEIT
1
Cynthia Ernst wußte genau, in welchem Augenblick sie beschlossen hatte, ihre Eltern eines Tages umzubringen. Sie war damals zwölf Jahre alt und hatte vor zwei Wochen das Kind ihres Vaters zur Welt gebracht.
Eine unauffällig gekleidete Mittvierzigerin war unangemeldet in der Villa der Familie Ernst in der exklusiven, von einem Sicherheitsdienst bewachten Wohnsiedlung Bay Point an der Biscayne Bay erschienen. Sie hatte sich als Sozialarbeiterin des Jugendamts ausgewiesen.
Als Cynthia eine fremde Stimme hörte, schlich sie lautlos zur Tür des Salons im Erdgeschoß, in den ihre Mutter die Besucherin gebeten hatte. Die Tür war geschlossen, aber Cynthia öffnete sie ebenso lautlos einen Spaltbreit, um in den Salon sehen und das Gespräch belauschen zu können.
»Mrs. Ernst, ich bin dienstlich hier«, sagte die Frau gerade, »um mit Ihnen über das Baby Ihrer Tochter zu sprechen.« Sie sah sich um und schien von ihrer Umgebung beeindruckt zu sein. »Ich muß jedoch sagen, daß in solchen Fällen im allgemeinen Armut und Vernachlässigung vorherrschen. Das ist hier ganz offensichtlich nicht der Fall.«
»Hier hat es keine Vernachlässigung gegeben, das kann ich Ihnen versichern - ganz im Gegenteil.« Eleanor Ernst sprach ruhig und überlegt. »Mein Mann und ich haben unserer Tochter von Geburt an jeden Wunsch von den Augen abgelesen und lieben sie innig. Was passiert ist, hat uns begreiflicherweise sehr mitgenommen, weil wir uns vorwerfen müssen, als Eltern versagt zu haben.«
»Es wäre vielleicht nützlich, etwas über die Vorgeschichte zu erfahren. Wie ist Ihre Tochter...« Die Besucherin sah in ihrem Notizbuch nach. »Ihre Tochter Cynthia... unter welchen Umständen ist sie schwanger geworden? Und wer ist der Vater des Kindes? Was wissen Sie über ihn - vor allem in bezug auf sein Alter?«
Cynthia trat noch etwas dichter an die Tür heran, damit ihr ja kein Wort entging.
»Tatsächlich wissen wir überhaupt nichts über den Kindsvater, und Cynthia hat sich strikt geweigert, seine Identität preiszugeben.« Eleanors Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Bevor sie fortfuhr, tupfte sie sich die Augen mit einem Spitzentaschentuch ab. »Leider hat unsere Tochter trotz ihres jugendlichen Alters schon viele Freunde gehabt. Ich sage das nicht gern, aber ich fürchte, daß sie schrecklich zur Promiskuität neigt. Das macht meinem Mann und mir schon seit längerem Sorgen.«