»Hören Sie, Mrs. Ernst...«, die Stimme der Sozialarbeiterin klang jetzt schärfer, »...wäre es da nicht logisch gewesen, sich um professionelle Hilfe zu bemühen? Ihr Mann und Sie sind informierte Menschen; Sie hätten wissen müssen, daß es solche Einrichtungen gibt.«
»Aus heutiger Sicht hätten wir das vielleicht tun sollen. Aber wir haben es eben nicht getan.« Eleanor fügte pointiert hinzu: »Für Außenstehende ist es immer leicht, nachträglich Fehler zu erkennen.«
»Haben Sie vor, sich jetzt beraten zu lassen? Wollen Sie auch Ihre Tochter daran beteiligen?«
»Mein Mann und ich sind noch dabei, verschiedene Möglichkeiten zu überlegen. Bisher haben uns die nötigen Vorbereitungen in Atem gehalten. Das Baby ist gleich nach der Geburt zur Adoption freigegeben worden - das hatten wir alles vorbereitet.« Eleanor machte eine Pause. »Muß ich diese Fragen wirklich alle beantworten? Mein Mann und ich hatten auf Respektierung unserer Privatsphäre gehofft.«
Die Besucherin hatte sich während ihres Gesprächs Notizen gemacht. »Das Wohl eines Kindes ist wichtiger als die Privatsphäre der Eltern, Mrs. Ernst. Aber falls Sie Zweifel daran haben, ob unsere Behörde zu Nachforschungen berechtigt ist, brauchen Sie nur Ihren Anwalt zu fragen.«
»Das ist bestimmt nicht nötig«, wehrte Eleanor beschwichtigend ab. »Ich kann Ihnen sagen, daß mein Mann und ich - und natürlich auch Cynthia - aus dieser unglücklichen Geschichte viel gelernt haben. In gewisser Beziehung hat sie uns drei enger zusammengeführt. Wir haben lange miteinander geredet, und Cynthia hat uns feierlich versprochen, sich von jetzt an zu bessern.«
»Vielleicht sollte ich selbst mit Ihrer Tochter sprechen.«
»Mir wäre es lieber, wenn Sie das nicht täten. Ich bitte Sie sogar darum, es nicht zu tun. Das könnte alle bisher erzielten Fortschritte wieder zunichte machen.«
»Wissen Sie das bestimmt?«
»Ganz sicher.«
Heute, als Erwachsene, fragte Cynthia sich manchmal, warum sie in diesem Augenblick nicht in den Salon gestürmt und mit der Wahrheit herausgeplatzt war. Aber sie mußte wohl instinktiv erkannt haben, daß sie damit zwar ihre Eltern wegen der bestimmt peinlichen Fragen in Verlegenheit gebracht, aber letztlich doch keinen Glauben gefunden hätte. Sie hatte von schlimmen Fällen von Kindesmißbrauch gelesen, in denen man den Erwachsenen, die alles abgestritten hatten, geglaubt und die Kinder als Lügner bezeichnet hatte. Die beschuldigten Erwachsenen konnten sich geldgierige Anwälte nehmen, die es verstanden, Aussagen von Kindern geschickt zu widerlegen, während Kinder - auch wenn sie begriffen, worum es ging -nicht über solche Möglichkeiten verfügten.
Jedenfalls stürmte Cynthia - vielleicht aus instinktiver Einsicht - nicht in den Salon, und die Stimmen der beiden Frauen wurden leiser, als sie wegschlich, weil sie genug gehört hatte.
Zehn Minuten später kamen ihre Mutter und die Sozialarbeiterin aus dem Salon. Eleanor brachte die Besucherin zur Haustür und schloß sie hinter ihr. Als sie sich umdrehte, verließ Cynthia ihr Versteck und vertrat ihrer Mutter den Weg.
Eleanor wurde blaß. »Mein Gott, Cynthia! Wie lange bist du schon hier?«
Cynthia funkelte sie schweigend und mit anklagend durchdringendem Blick an. Mit kurzen braunen Ponyfransen und Sommersprossen sah sie noch ganz wie eine Zwölfjährige aus, aber aus dem Blick ihrer smaragdgrünen Augen sprach die Willenskraft einer Frau.
Eleanor Ernsts Blick war unstet, ihre Hände verkrampften sich nervös. Sie trug elegante Kleidung mit hochhackigen Schuhen und kam frisch vom Friseur. »Cynthia«, sagte sie jetzt. »Ich bestehe darauf, daß du mir sagst, wie lange du schon hier bist. Hast du gehorcht?«
Noch immer kein Wort.
»Hör auf, mich anzustarren!« Als Eleanor einige Schritte auf sie zutrat, wich Cynthia vor ihr zurück.
Sekunden später bedeckte ihre Mutter ihr Gesicht mit den Händen und begann leise zu weinen. »Du hast's gehört, nicht wahr? Oh, Schätzchen, ich konnte nicht anders; das siehst du bestimmt ein. Du weißt, daß ich dir niemals weh tun würde... Bitte laß mich dich in den Arm nehmen.«
Cynthia beobachtete sie völlig ungerührt; dann wandte sie sich langsam ab und ging davon.
Alle lügenhaften, heuchlerischen Worte ihrer Mutter, die sie belauscht hatte, blieben für immer in ihr Gedächtnis eingebrannt. Ihren Vater haßte sie bereits, weil er sie körperlich mißbraucht hatte, solange sie zurückdenken konnte. Aber in gewisser Beziehung verabscheute sie ihre Mutter noch mehr. Selbst als Zwölfjährige wußte Cynthia, daß ihre Mutter sich um Hilfe von außen hätte bemühen können und sollen, und daß Eleanor das nicht getan hatte, konnte sie ihr nie verzeihen.
Aber Cynthia, die schon mit zwölf Jahren clever und gerissen war, verbarg ihre Wut um ihrer Zukunft willen. Um ihre großen Pläne verwirklichen zu können, brauchte sie ihre Eltern - vor allem ihren Reichtum und ihre Beziehungen. Deshalb spielte sie in der Öffentlichkeit die wohlerzogene, manchmal sogar liebevolle Tochter. Zu Hause sprach sie nur selten mit ihnen.
Ihr Vater, das wußte sie, akzeptierte die Täuschung, weil er für das Bild, das sie Außenstehenden vermittelte, dankbar war. Ihre Mutter benahm sich, als sei innerhalb der Familie alles in bester Ordnung.
Wurde ihr jemals ein Wunsch verweigert, verschränkte Cynthia die Arme und starrte ihre Eltern mit kaltem Blick durchdringend an, als wollte sie sagen: Ich weiß, was ihr mir angetan habt, und ihr wißt es auch. Wäre es nicht besser, wenn sonst niemand davon erführe? Ihr habt die Wahl!
Diese unausgesprochene Drohung, ein Appell an ihr Scham-und Schuldgefühl und ihre Feigheit, wirkte hundertprozentig. Nach einer nervösen, verlegenen Pause knickte Gustav Ernst unweigerlich unter dem herausfordernden Blick seiner Tochter ein und murmelte: »Ich weiß einfach nicht, was ich mit ihr anfangen soll.«
Eleanor zuckte wie üblich hilflos mit den Schultern.
Ihre ganze Durchsetzungskraft bewies Cynthia, als es einige Jahre später darum ging, welche Schule sie in Zukunft besuchen würde.
Sie hatte die Unter- und Mittelstufe in Miami besucht, und ihre Zeugnisse wiesen sie als überdurchschnittlich begabte Schülerin aus. Gustav und Eleanor hatten vor, Cynthia auf die angesehene Privatschule Ransom-Everglades in Coral Gables zu schicken. Aber ihre damals vierzehnjährige Tochter hatte andere Ideen. Als sie bereits in Ransom-Everglades angemeldet war, erklärte sie ihren Eltern plötzlich, sie habe sich für das Internat Pine Crest in Fort Lauderdale - ungefähr vierzig Kilometer nördlich von Miami - entschieden. Sie hatte sich dort auf eigene Faust angemeldet.
Gustav war total dagegen. »Du hast absichtlich gegen unsere Wünsche gehandelt«, sagte er an diesem Tag beim Abendessen.
»Hätten wir uns für Pine Crest entschieden, hättest du auf Ransom-Everglades bestanden.«
Eleanor beobachtete die beiden hilflos und wußte, daß Cynthia sich zuletzt doch durchsetzen würde.
Mit ihrer bewährten Methode schaffte sie das auch. Cynthia blieb am Tisch sitzen, rührte aber das Essen nicht an, sondern starrte ihren Vater mit einem Blick an, aus dem absolute Überlegenheit sprach, bis er endlich seine Gabel weglegte und unwillig brummte. »Mach doch meinetwegen, was du willst.«
Cynthia nickte, stand vom Tisch auf und ging in ihr Zimmer.
Vier Jahre später wiederholte sich das alles, als Cynthia sich für ein College entscheiden mußte. Unterdessen war sie achtzehn und besaß die Klugheit und Schönheit einer erwachsenen Frau. Sie wußte recht gut, daß ihre Mutter sich sehnlichst wünschte, Cynthia würde am Smith College in Northampton, Massachusetts - Eleanors prestigeträchtiger Alma mater - studieren, und ließ sie vier Jahre lang in dem Glauben, sie werde dieses College wählen.