Cynthia war eine sehr aussichtsreiche Kandidatin: Sie war in Pine Crest die Klassenbeste und wurde in die National Honor Society aufgenommen. Außerdem spendete Eleanor dem Smith College regelmäßig größere Beträge, was zwar angeblich nicht zählte, aber vielleicht doch nutzte.
Die Zusage wurde an die Adresse der Ernsts geschickt, und Eleanor öffnete den Brief. Sie rief Cynthia sofort im Internat an, um ihr die aufregende Nachricht mitzuteilen.
»Ja, ich habe erwartet, daß sie mich nehmen würden«, sagte Cynthia kühl.
»Schätzchen, ich kann dir nicht sagen, wie begeistert ich bin! Das muß gefeiert werden! Wie wär's mit einem Dinner am Samstagabend? Hättest du Zeit?«
»Klar, klingt gut.«
Cynthia machte die Symmetrie der Ereignisse bereits Spaß, und am Samstagabend saßen die drei an dem langen Eichentisch im Speisezimmer: ihre Eltern an den Kopfenden, Cynthia an der Seite. Der Tisch war mit englischem Damast und Eleanors bestem Herend-Porzellan gedeckt. In mehrarmigen Silberleuchtern brannten Kerzen. Cynthia trug sogar ein Abendkleid. Ihre Eltern, das war nicht zu übersehen, strahlten vor Glück.
Nachdem ihr Vater den Wein eingeschenkt hatte, hob er sein Glas und sagte: »Auf die kommende Generation von Smith-Absolventinnen!«
»Hört, hört!« rief Eleanor begeistert. »Oh, Cynthia, ich bin so stolz auf dich! Du wirst sehen, als Smith-Absolventin steht dir die ganze Welt offen.«
Cynthia spielte mit ihrem Weinglas. »Das könnte stimmen, Mutter, wenn ich am Smith studieren würde.« Sie beobachtete amüsiert, wie das glückstrahlende Lächeln ihrer Mutter verblaßte. Dieses kleine Ritual hatten sie schon so oft zelebriert, daß jede Nuance voraussehbar war.
»Was zum Teufel soll das heißen?« fragte der Vater.
»Ich habe mich bei der Florida State University in Tallahassee beworben«, antwortete Cynthia fröhlich. »Letzte Woche ist die Zusage gekommen, und ich habe mich gleich angemeldet.« Sie hob ihr Weinglas. »Auf Tallahassee!«
Eleanor brachte vor Entsetzen kein Wort heraus.
Auf der Stirn ihres Mannes standen plötzlich Schweißperlen. »Du studierst am Smith College, nicht an einer staatlichen Universität. Das verbiete ich dir!«
Am anderen Tischende stand Eleanor auf. »Weißt du eigentlich, was für eine Ehre es ist, von Smith angenommen zu werden? Die dortigen Studiengebühren betragen über zwanzigtausend Dollar im Jahr. Beweist dir das nicht, wie exklusiv... «
»In Tallahassee sind dreitausend fällig«, unterbrach Cynthia sie. »Stellt euch vor, wieviel Geld ihr da sparen werdet!« Sie betrachtete ihre Eltern gelassen.
»Glaubst du etwa, daß uns das Geld... Oh!« Eleanor verbarg ihr Gesicht in den Händen.
Gustav schlug mit der Faust auf den Tisch. »Damit kommst du nicht durch, junge Dame!«
Unterdessen war Cynthia ebenfalls aufgestanden und starrte ihre Eltern abwechselnd an. Ihre unausgesprochenen Worte waren ohrenbetäubend laut.
Gustav bemühte sich, ihrem Blick standzuhalten, aber dann sah er wie schon so häufig weg und seufzte. Zuletzt gestand er mit einem Schulterzucken seine Niederlage ein und verließ den Raum. Sekunden später folgte Eleanor ihm hinaus.
Cynthia aß in aller Ruhe weiter.
Drei Jahre später schloß Cynthia, die ein Vierjahrespensum in drei Jahren bewältigt hatte, ihr Studium an der Florida State University mit höchster Auszeichnung und als Mitglied der Vereinigung Phi Beta Kappa ab.
Cynthia hatte als Schülerin und Studentin viele Freunde und stellte zu ihrer Überraschung fest, daß Sex ihr trotz traumatischer Kindheitserinnerungen Spaß machte. Aus ihrer Sicht hatte Sex jedoch vor allem mit Macht zu tun. Sie würde nie wieder eine willfährige Partnerin sein und war bestrebt, in jeder sexuellen Beziehung die dominierende Rolle zu spielen. Eine weitere Überraschung war die Tatsache, daß viele Männer ihre Dominanz genossen, sie sogar erregend fanden. Aber trotz ihrer vielen Affären gestattete Cynthia sich niemals den Luxus, sich zu verlieben. Sie war einfach nicht bereit, auf einen so großen Teil ihrer Unabhängigkeit zu verzichten.
Viel später galten diese Spielregeln für ihre Affäre mit Malcolm Ainslie nur zum Teil. Wie die meisten seiner Vorgänger genoß er ihre »sexuellen Freiübungen«, wie er sie einmal nannte, und revanchierte sich auf ähnliche Weise. Aber Cynthia schaffte es nie, ihn wie die anderen völlig zu dominieren; er besaß eine innere Kraft, die sie nie ganz überwinden konnte. Während ihrer Affäre hatte sie aus reinem Mutwillen versucht, Malcolms Ehe zu zerstören, dabei aber keineswegs die Absicht gehabt, ihn selbst zu heiraten - oder irgendeinen anderen Mann. In ihren Augen bedeutete eine Ehe, sich einem Mann praktisch auszuliefern, und sie hatte sich geschworen, das nie zu tun.
In direktem Gegensatz zu Malcolm stand der Romanautor Patrick Jensen, den Cynthia vom ersten Augenblick an beherrscht hatte. Anfangs war ihre Beziehung rein sexueller Natur gewesen, aber später wurde sie komplexer. Cynthias Affären mit beiden Männern begannen etwa gleichzeitig, aber sie hielt Malcolm und Patrick sorgsam auseinander, so daß sie gewissermaßen auf getrennten Bahnen liefen.
Patrick Jensen steckte gerade in einer schwierigen Lage - vor allem wegen des Scheiterns seiner Ehe -, als seine Affäre mit Cynthia begann. Seine Frau Naomi hatte sich scheiden lassen und nach erbitterten Auseinandersetzungen eine großzügige Abfindung erstritten. Nach Auskunft von Freunden waren die sieben Ehejahre der Jensens von Patricks Wutanfällen geprägt gewesen, die dazu geführt hatten, daß Naomi ihn dreimal wegen Körperverletzung angezeigt hatte. Alle drei Anzeigen waren zurückgezogen worden, nachdem Patrick Besserung gelobt hatte. Aber die trat nie ein. Auch nach der Scheidung zeigte Patrick öffentlich, wie eifersüchtig er auf Naomi war, wenn sie sich mit anderen Männern zeigte, und wurde einmal sogar gewalttätig gegen ihren Begleiter.
Für Patrick war Cynthia Ernst in jeder Beziehung ein Geschenk des Himmels. Er gestand sich ein, daß sie viel stärker war als er, unterwarf sich ihr bereitwillig und verließ sich mehr und mehr auf ihre Führung. Cynthia glaubte ihrerseits, in Patrick jemanden gefunden zu haben, den sie beherrschen und zur Verwirklichung ihrer langfristigen persönlichen Pläne einsetzen konnte.
Ihre Überzeugung bestätigte sich, als Patrick eines Nachts sehr spät bei Cynthia aufkreuzte.
Sie hörte vom Bett aus, wie jemand ungeduldig an ihre Wohnungstür hämmerte. Ein Blick durch den Spion zeigte ihr Patrick, der sich nervös im Flur umsah und sich mit allen zehn Fingern durchs Haar fuhr.
Als sie ihm öffnete, stürzte er herein und sagte hastig: »Gott, Cynthia, ich hab' was Schlimmes angestellt! Ich muß aus Miami weg. Leihst du mir dein Auto?« Er trat ans nächste Fenster und sah ängstlich nach beiden Seiten die Straße entlang. »Ich muß weg... sofort weg von hier! Cynthia, du mußt mir helfen.« Er starrte sie bittend an, während er sich wieder die Haare raufte.
»Mein Gott, du bist in Schweiß gebadet.« Cynthia fuhr energisch fort: »Komm, beruhig dich erst mal. Setz dich hin, ich hole dir einen Scotch.«
Sie brachte ihm den Drink, nahm neben ihm auf der Couch Platz und massierte seinen Nacken. Er begann zu reden, verstummte dann und stieß plötzlich hervor: »O Gott, Cynthia, ich hab' Naomi umgebracht! Hab' sie erschossen.« Seine Stimme versagte.
Cynthia rückte von ihm ab. Ihre Pflicht als Polizeibeamtin, vor allem als Kriminalbeamtin der Mordkommission - war klar. Sie hätte Patrick verhaften, ihn über seine Rechte belehren und in Handschellen abführen müssen. Aber sie überlegte rasch, wog die Chancen und Risiken ab und tat nichts dergleichen. Statt dessen trat sie an einen Schrank, holte ein Tonbandgerät heraus, legte eine neue Kassette ein und drückte die Aufnahmetaste. Patrick hatte seine Hände vors Gesicht geschlagen und schluchzte laut. Cynthia stellte das Tonbandgerät in seiner Nähe auf die Fensterbank, wo es hinter Topfpflanzen versteckt war.