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»Auf der Standspur weiter«, wies er Jorge an. »Mit Blinklicht.«

Jorge schaltete die blauen, roten und weißen Blinklichter ein und schlängelte sich durch Lücken auf die rechte Standspur hinüber. Sie fuhren gleichmäßig, aber vorsichtig an den jetzt stehenden Fahrzeugen vorbei. Überall wurden Türen geöffnet, als Beifahrer ausstiegen und herauszufinden versuchten, warum die Interstate blockiert war.

»Schneller!« drängte Ainslie. »Wir haben's eilig!«

Wenig später hatten sie mehrere Wagen der Florida Highway Patrol vor sich, die mit eingeschalteten Blinklichtern alle Fahrbahnen blockierten - auch die Standspur, die der Streifenwagen aus Miami benutzte.

Ein Lieutenant der Highway Patrol hob die rechte Hand, um sie zum Anhalten zu veranlassen, und kam auf den Wagen zu. Ainslie stieg aus.

»Hier ist wirklich nicht Miami, Jungs«, sagte der Lieutenant. »Habt ihr euch verfahren?«

»Nein, Sir.« Ainslie wies seine Plakette vor, die der andere inspizierte. »Wir müssen nach Raiford und haben's sehr eilig.«

»Dann haben Sie leider Pech, Sergeant. Die Interstate ist total gesperrt. Dort vorn ist ein schwerer Unfall passiert. Ein Tankzug ist ins Schleudern geraten und umgestürzt.«

»Lieutenant, wir müssen trotzdem durch!«

Die Stimme des Uniformierten wurde schärfer. »Ausgeschlossen! Der Fahrer und vermutlich auch die beiden Insassen des Wagens, den der Sattelzug überrollt hat, sind tot. Die Tanks sind aufgerissen, und Tausende Liter Superbenzin laufen über den Asphalt. Wir versuchen den Verkehr umzuleiten, bevor irgendein Idiot ein brennendes Zündholz aus dem Fenster wirft. Wir haben die Feuerwehr mit Löschschaum angefordert, aber die ist noch unterwegs. Also nein! Sie können unmöglich vorbei. Das ist mein letztes Wort.«

Der Lieutenant wandte sich ab, als einer seiner Leute seinen Namen rief.

Ainslie beherrschte sich mühsam. »Wir brauchen eine andere Route!«

Jorge, der schon eine Straßenkarte auf der Motorhaube ausgebreitet hatte, schüttelte zweifelnd den Kopf. »Dafür reicht die Zeit nicht, Sergeant. Wir müßten die Interstate zurückfahren und uns auf Nebenstraßen durchschlagen. Dabei kann man sich leicht verfahren. Können wir nicht doch... «

»Nein«, unterbrach Ainslie ihn, »wir müssen umkehren. Los, los, wir haben's eilig!«

Als sie wieder einstiegen, kam der Lieutenant zurückgelaufen.

»Wir tun unser Bestes, um Ihnen zu helfen«, sagte er hastig. »Ich habe eben mit der Leitstelle gesprochen. Sie weiß von Ihnen und warum Sie nach Raiford müssen. Ich erkläre Ihnen jetzt die kürzeste Strecke.«

Jorge machte sich Notizen, während der Lieutenant die Ausweichroute beschrieb.

»Von hier aus fahren Sie nach Micanopy zurück - zur Ausfahrt dreiundsiebzig. Dort nehmen Sie den Weg nach Westen zum Highway 441, den Sie fast sofort erreichen. Sie biegen links ab und fahren nach Norden in Richtung Gainesville; die Straße ist nicht schlecht, und Sie müßten gut vorankommen. Kurz vor Gainesville biegen Sie an einer Ampel rechts auf den Highway 331 ab. Dort wartet einer unserer Streifenwagen auf Sie. Der Fahrer ist Trooper Sequiera. Folgen Sie ihm. Er begleitet Sie auf dem kürzesten Weg nach Raiford.«

Ainslie nickte. »Danke, Lieutenant. In Ordnung, wenn wir mit Blinklicht und Sirene fahren?«

»Benutzen Sie alles, was Sie haben. Und noch was: Wir wissen natürlich alle von Doil. Sorgen Sie dafür, daß der Hundesohn auf den Stuhl kommt.«

Jorge fuhr bereits an. Er ließ den Streifenwagen zwischen Büschen hindurch über den grasbewachsenen Mittelstreifen rollen und raste nach Süden davon - mit eingeschaltetem Blinklicht, heulender Sirene und durchgetretenem Gaspedal.

Jetzt wurde die Zeit verdammt knapp, das wußte Ainslie. Auch Jorge war sich darüber im klaren.

Der erzwungene Umweg würde sie mindestens eine halbe Stunde Zeit kosten, vielleicht sogar mehr.

Die Uhr am Armaturenbrett zeigte 5.34 Uhr an. Animal würde in weniger als eineinhalb Stunden hingerichtet werden. Klappte wirklich alles, konnten sie in ungefähr vierzig Minuten in Raiford sein - gegen 6.15 Uhr. Zog man die Zeit ab, die Ainslie benötigte, um ins Gefängnis eingelassen und zu Doil gebracht zu werden, und berücksichtigte man, daß der Todeskandidat früher weggebracht werden würde, um auf dem elektrischen Stuhl festgeschnallt zu werden, konnte Ainslie auf bestenfalls eine halbe Stunde für das Gespräch mit Doil hoffen.

Nicht genug! Nicht annähernd genug.

Aber die Zeit würde reichen müssen.

»Scheiße!« murmelte Ainslie. Er mußte sich beherrschen, um Jorge nicht zu drängen, schneller zu fahren. Aber das hätte niemand gekonnt. Jorge, der sehr gut fuhr, hatte die Wegbeschreibung Ainslie überlassen, der sie mit der Taschenlampe las, wenn sie gebraucht wurde. Der Highway 441, auf dem sie jetzt fuhren, war nicht kreuzungsfrei wie die I-75; außerdem waren hier langsamere Lastwagen unterwegs, die Jorge nacheinander überholte, um kostbare Sekunden zu gewinnen. Mit Blinklicht und Sirene war das kein Problem, aber inzwischen hatte Nieselregen eingesetzt, und in Bodensenken lagen Nebelbänke, in denen sie die Geschwindigkeit drosseln mußten.

»Verdammt!« knurrte Ainslie. »Wir schaffen's nicht.«

»Wir haben noch eine Chance.« Jorge saß nach vorn gebeugt am Steuer und konzentrierte sich ganz auf die Straße; jetzt trat er das Gaspedal weiter durch. »Verlassen Sie sich auf mich!«

Was bleibt mir anderes übrig? dachte Ainslie. Jetzt ist Jorge am Zug; ich bin später dran - vielleicht! Bloß nicht verkrampfen, sagte er sich. Am besten denkst du an etwas anderes. Zum Beispiel an Doil. Hat er irgendwelche Überraschungen parat? Sagt er endlich die Wahrheit, wie er's vor Gericht nicht getan hat?

Der sensationelle Mordprozeß gegen Elroy Doil machte Schlagzeilen in fast allen amerikanischen Zeitungen und wurde von den großen Fernsehsendern täglich kommentiert. Vor dem Gerichtsgebäude hatte sich eine Handvoll Demonstranten mit Schriftbändern versammelt, auf denen die Todesstrafe gefordert wurde. Journalisten drängelten sich - viele vergebens -, um einen der wenigen Plätze im Medienbereich des Verhandlungssaals zu ergattern.

Die Empörung der Öffentlichkeit wurde durch die Entscheidung der Staatsanwältin geschürt, Doil nur wegen der letzten Straftat anzuklagen - wegen des Mordes an Kingsley und Nellie Tempone, einem älteren, reichen und geachteten schwarzen Ehepaar aus Miami, das in seinem Haus im exklusiven Vorort Bay Heights grausam gefoltert und erstochen worden war.

Wurde Doil wegen der Ermordung des Ehepaars Tempone schuldig gesprochen und hingerichtet, würden die anderen zehn Morde, die er vermutlich ebenfalls begangen hatte, für immer ungeklärt bleiben.

Die kontroverse Entscheidung, die die Staatsanwältin Adele Montesino auf Anraten ihrer erfahrensten Strafverfolger getroffen hatte, bewirkte einen Aufschrei der Familien der übrigen Mordopfer, die im Namen ihrer Angehörigen, die sie verloren hatten, lautstark Gerechtigkeit forderten. Die Medien berichteten über ihre Empörung und nutzten diese Gelegenheit, Doil öffentlich mit den früheren Morden in Verbindung zu bringen, ohne Schadensersatzklagen befürchten zu müssen.

Dadurch wurde die Öffentlichkeit sensibilisiert und zunehmend kritischer.

Auch der Polizeipräsident von Miami hatte die Staatsanwältin gedrängt, Doil zumindest wegen eines weiteren Doppelmords anzuklagen.

Aber Adele Montesino, eine kleine, mollige Vierundfünfzigjährige mit dem Spitznahmen »Pitbull«, ließ sich nicht beeinflussen. Sie befand sich in ihrer dritten vierjährigen Amtsperiode, hatte bereits erklärt, nicht wieder kandidieren zu wollen, und konnte es sich deshalb leisten, ihre Unabhängigkeit zu demonstrieren.