Nachdem Naomi Jensen und Kilburn Holmes erschossen aufgefunden worden waren, sah die Mordkommission der Miami Police in Patrick Jensen den Hauptverdächtigen und vernahm ihn eingehend. Zu Cynthias Erleichterung reichte die Beweislage nicht für eine Verhaftung und Anklage aus. Gewiß, Jensen hatte Gelegenheit zur Tat gehabt und besaß kein Alibi; andererseits fehlte jegliches Belastungsmaterial. Außerdem hatte Cynthia ihm eingeschärft, bei Vernehmungen möglichst wenig zu sagen und keine freiwilligen Angaben zu machen. »Denk daran, daß du deine Unschuld nicht beweisen mußt«, hatte sie unterstrichen. »Die Cops müssen dir deine Schuld nachweisen.«
Am Tatort fanden die Spurensicherer zwei kleinere Beweisstücke, mit denen jedoch wenig anzufangen war. Ein in der Nähe der Leichen gefundenes Taschentuch paßte zu anderen, die Jensen besaß. Aber daß es Jensen gehörte, ließ sich nicht beweisen.
Das zweite Beweisstück war ein Papierfetzen, den Kilburn Holmes in der Hand gehalten hatte. Er paßte zu einem weiteren Stück Papier in Jensens Garage, aber auch das bewies nichts. Die tödlichen Schüsse waren aus einer Waffe des Kalibers 38 abgefeuert worden, und Jensen hatte nachweislich zwei Monate zuvor einen Revolver Smith & Wesson Kaliber 38 gekauft. Aber er behauptete, diese Waffe schon eine Woche später verloren zu haben; eine Durchsuchung seines Hauses förderte sie nicht zutage, und ohne Tatwaffe steckten die Ermittlungen in einer Sackgasse.
Cynthia war auch erleichtert, daß Ainslies Team nicht mit den Ermittlungen befaßt war. Zuständig für sie war Sergeant Pablo Greene, der Detective Charlie Thurston mit der Leitung der Ermittlungen betraut hatte. Da bekannt war, daß Cynthia Umgang mit Jensen hatte, fragte Thurston sie beinahe schüchtern: »Weißt du irgendwas über diesen Kerl, das uns weiterhelfen könnte?«
»Nein, leider nicht«, antwortete sie freundlich.
»Traust du Jensen zu, die beiden erschossen zu haben?«
»Ich sag's nicht gern, Charlie«, erwiderte Cynthia. »Aber ich trau' ihm die Tat zu.«
Charlie Thurston nickte. »Ich auch.«
Und damit war das Thema erledigt. Offensichtlich kam weder Sergeant Greene, Detective Thurston noch sonst jemand in der Mordkommission auf die Idee, Detective Cynthia Ernst, die früher mit dem jetzt unter Mordverdacht stehenden Jensen befreundet gewesen war, könnte auch nur im entferntesten in diesen Fall verwickelt sein.
Das lag natürlich daran, daß Cynthia ihren Kollegen, Vorgesetzten und sonstigen Gesprächspartnern gegenüber freundlich und kooperativ auftrat. Nur Verbrecher, mit denen sie beruflich zu tun hatte, erlebten sie von ihrer kalten, skrupellosen Seite.
Patrick Jensen lernte diese Seite kennen, als sie wieder zusammentrafen, nachdem Cynthia ihn vorsichtshalber über Monate hinweg strikt gemieden hatte.
2
Für ihr nächstes Treffen mit Jensen wählte Cynthia die Cayman Islands aus - ein für absolute Diskretion bekanntes Urlaubsziel, wo man völlig ungestört sein kann, wenn man Wert darauf legt. Genau das wollte sie.
Sie reisten einzeln an und wohnten in getrennten Hotels. Cynthias Reservierung im Hyatt Regency auf Grand Cayman lautete auf den Namen Hilda Shaw. Um keine Kreditkarte benutzen zu müssen, die ihre Identifizierung ermöglich hätte, ließ sie von der Western Union eine Anzahlung überweisen und beglich den Restbetrag bei ihrer Ankunft in bar. An der Rezeption wurde das anstandslos akzeptiert.
Jensen, dem sie ihre Anweisungen telefonisch erteilt hatte, wohnte ganz in der Nähe in dem bescheideneren Sleep Inn. Aber er verbrachte den größten Teil seiner drei Tage und Nächte auf Grand Cayman in Cynthias Zimmer mit Blick auf den zum Hotel gehörenden Park.
Als sie sich dort nach dreimonatiger Trennung wiedersahen, fielen sie förmlich übereinander her, rissen sich gegenseitig die Kleider vom Leib und liebten sich so heftig und gewalttätig, daß Cynthia auf ihrem Höhepunkt mit beiden Fäusten gegen Jensens Schultern trommelte.
»Himmel, das tut weh!« protestierte er.
Als sie dann erschöpft in dem zerwühlten Bett lagen, sagte Patrick: »Seit wir uns damals nachts zum letztenmal getroffen haben, ist soviel passiert, daß ich nicht dazu gekommen bin, dir für alles zu danken, was du für mich getan hast. Deshalb danke ich dir jetzt.«
»Bedanken brauchst du dich nicht«, wehrte Cynthia betont lässig ab. »Ich hab' nur einen Kaufpreis bezahlt.«
Patrick lachte. »Was soll das heißen?«
»Das heißt, daß du jetzt mir gehörst.«
Danach entstand eine Pause. »Du redest von der Wunderkiste, stimmt's?« fragte Patrick langsam. »Die hast du irgendwo versteckt.«
Sie nickte. »Natürlich.«
»Und. du glaubst, falls ich dir irgendwann nicht gehorche oder dich gegen mich aufbringe, könntest du sie aufmachen und sagen: >Hey, Jungs, seht euch das viele Beweismaterial an! Damit könnt ihr den Hundesohn Jensen auf den elektrischen Stuhl bringen.««
»Du schreibst gute Dialoge.« Cynthia gestattete sich ein kleines, humorloses Lächeln. »Ich hätte's nicht besser ausdrücken können.«
Auch auf Patricks Gesicht erschien ein schwaches Lächeln. »Aber du hast ein paar Kleinigkeiten übersehen. Das passiert sogar dir. Zum Beispiel deine Schrift auf den Etiketten. Und deine Fingerabdrücke... «
»Alles längst beseitigt«, log sie, während sie sich wieder vornahm, sich demnächst darum zu kümmern. »Ich habe die Beutel beschriftet, damit du siehst, was ich tue. Aber jetzt trägt alles nur noch deine Fingerabdrücke. Und es gibt eine Tonbandkassette.«
Cynthia schilderte ihm, wie sie alles, was Jensen in jener Nacht in ihrer Wohnung gesagt hatte - sein Geständnis, er habe Naomi und ihren Freund Kilburn Holmes erschossen -, aufgenommen hatte. »Ich habe eine Kopie davon mitgebracht. Möchtest du sie hören?«
Patrick machte eine wegwerfende Handbewegung. »Schon gut; ich glaube dir. Aber ich könnte dir trotzdem schaden, indem ich aussage, wie du mir geholfen hast, das Belastungsmaterial verschwinden zu lassen. Würde ich schuldig gesprochen, wärst du auch erledigt - zumindest wegen Beihilfe.«
Cynthia schüttelte den Kopf. »Kein Mensch würde dir glauben. Ich würde alles leugnen, und mir würde man glauben. Und noch etwas.« Ihr Tonfall wurde schärfer. »Das Beweismaterial würde irgendwo gefunden, wo du es hättest verstecken können. Leider würdest du nicht wissen, wo das ist, bis die Polizei es nach einem anonymen Tip gefunden hätte.«
Sie starrten einander lauernd an. Im nächsten Augenblick ließ Jensen sich paradoxerweise zurücksinken und begann zu lachen. Er hob gutgelaunt die Hände, als ergebe er sich. »Cynthia, Liebste, du bist wirklich ein gerissenes Genie. Nun, du hast gesagt, ich gehöre dir. Ich gebe zu, daß das stimmt.«
»Das scheint dir nichts auszumachen.«
»Vielleicht ist's ein bißchen pervers, aber seltsamerweise gefällt mir das sogar.« Er fügte nachdenklich hinzu: »Das wäre eine großartige Romanvorlage.«
»Für einen Roman, den du nie schreiben wirst.«
»Aber was tue ich dann - wenn ich eine Art Schoßhund bin, den du an der Leine hältst?«
Dies war der entscheidende Moment. Cynthias Blick durchbohrte ihn. »Du hilfst mir, meine Eltern zu ermorden.«
»Hör mir zu«, verlangte Cynthia. »Hör mir gut zu!«
Als Patrick versucht hatte, etwas zu sagen - sie zur Vernunft zu bringen, wie er es sah, nachdem sie ihr ungeheuerliches Vorhaben angekündigt hatte -, war sie ihm über den Mund gefahren. Jetzt saß er stumm da und wartete.
Cynthia ließ sich Zeit, griff auf frühe Kindheitserinnerungen zurück, ergänzte sie durch Informationen, die sie ihrer Mutter entlockt hatte, und schilderte ihm bildhaft und überzeugend ihre gesamte Leidensgeschichte, ohne ihm - oder sich selbst - etwas zu ersparen.