Jensen hielt sich an diese Anweisungen. Als er zurückkam, nickte Dutch ihm zu.
»Du fährst einfach weiter dem Jeep nach«, wies Dutch Jensen an. »Hält er und macht das Licht aus, tust du's auch.«
Es war fast zwei Uhr morgens. Die beiden Männer saßen in Jensens Volvo und waren auf dem Florida's Turnpike sechzig Kilometer weit hinter einem Chrysler Cherokee mit Arlie als Fahrer und Virgilio auf dem Beifahrersitz nach Süden gefahren. Gleich hinter Florida City, wo die Everglades begannen, bogen sie auf die Cart Sound Road ab - eine einsame Nebenstraße nach Key Largo. Bei Halbmond konnte Jensen das Wattengebiet und die auf beiden Ufern im Schlick liegenden baufälligen Hausboote sehen. Sie hatten die Straße für sich allein, weil Autofahrer diese Strecke nachts mieden und lieber auf dem befahreneren und sichereren Highway US 1 blieben.
»Verdammt, ich könnt's in keinem dieser Scheißkähne aushalten«, sagte Dutch. »Und du?« Die Autoscheinwerfer hatten ihnen einen verrotteten alten Schlepper mit einem handgemalten Schild Blue Crabbs For Sale gezeigt. Patrick Jensen, der sich inzwischen fragte, warum er überhaupt mitgefahren war, gab keine Antwort.
In diesem Augenblick bog der Jeep vor ihnen von der Straße auf eine mit Kies bestreute Fläche ab, und Arlie schaltete seine Scheinwerfer aus. Jensen bog ebenfalls ab, schaltete die Scheinwerfer aus und stieg aus seinem Volvo. Die beiden anderen standen schweigend neben dem Jeep.
Der große Kolumbianer trat ans Wasser und starrte mit zusammengekniffenen Augen ins Dunkel hinaus.
Plötzlich tauchten hinter ihnen Scheinwerfer auf. Ein Lieferwagen mit der seitlichen Werbeaufschrift Plumber's Pal bog von der Straße ab und hielt neben Arlies und Virgilios Jeep. Patrick fiel auf, daß die beiden Männer, die sofort ausstiegen, Handschuhe trugen. Die Neuankömmlinge gingen zur Hecktür des Lieferwagens, wo die anderen sich zu ihnen gesellten. Jensen hielt sich im Hintergrund.
Auf der Ladefläche wurde ein Gegenstand sichtbar. Als er zur Tür gezogen wurde, erkannte Patrick einen Rollstuhl, der hinten transportiert worden war. In diesem Rollstuhl saß eine mit Stricken gefesselte Gestalt, die gegen ihre Fesseln anzukämpfen schien. Virgilio trat vor; auch er hatte sich inzwischen Handschuhe übergestreift. Der Kolumbianer hob den Rollstuhl heraus, als sei er federleicht, und stellte ihn auf den Kies.
Nun erkannte Jensen, daß der vor ihm Sitzende ein gefesselter und geknebelter junger Mann war, der verzweifelt mit den Augen rollte, während er sich bemühte, den Knebel herauszustoßen. Irgendwie gelang es ihm tatsächlich, einen Teil davon auszuspucken. Er wandte sich hilfesuchend an Jensen, der sich etwas im Hintergrund hielt, und stieß flehend hervor: »Ich bin entführt worden! Ich heiße Stewie Rice. Diese Leute wollen mich ermorden! Bitte helfen... «
Aber er konnte den Satz nicht zu Ende bringen, weil Virgilios mächtige Pranke in sein Gesicht krachte. Aus seiner Nase schoß ein Blutstrom; sein lauter Aufschrei wurde sofort erstickt, als Dutch ihm den Knebel wieder zwischen die Zähne zwängte. Trotzdem starrte der Gefesselte weiter hilfesuchend und verzweifelt zu Jensen hinüber. Patrick mußte sich abwenden.
»Wir gehen schnell«, befahl Virgilio den anderen. Er schob den Rollstuhl zum Wasser und hob ihn wieder mühelos hoch, als er einmal steckenblieb. Die beiden Männer, die mit dem Lieferwagen gekommen waren, folgten ihm; einer trug eine Kette, der andere schleppte einen Betonklotz mit eingegossener Öse. Dutch, der ihnen folgte, machte Jensen ein Zeichen, er solle ebenfalls mitkommen. Patrick setzte sich widerstrebend in Bewegung. Arlie blieb bei den Fahrzeugen zurück.
Sie wateten durch knöcheltiefes Wasser, das jedoch weiter draußen in der vor Jahren ausgebaggerten Fahrrinne zweieinhalb bis drei Meter tief war. Die Männer aus dem Lieferwagen gingen um ein Mangrovendickicht voraus, bis sie eine kleine Bucht mit seichtem Wasser und üppigem Seegrasbewuchs erreichten. Sie schienen die Stelle zu kennen, denn sie blieben stehen, sobald das Wasser tiefer wurde. »Hier sind wir richtig«, sagte einer von ihnen.
Virgilio, der den Rollstuhl mit seinem in panischer Angst gegen die Fesseln ankämpfenden Insassen mühelos allein schob, stieß ihn ins Wasser, bis nur noch Kopf und Schultern des Gefesselten herausragten. Die beiden anderen Männer zogen die mitgebrachte Kette durch die Räder des Rollstuhls und befestigten sie mit einem Vorhängeschloß an dem Betonklotz, den sie in tieferes Wasser klatschen ließen.
»Der schwimmt nicht mehr«, stellte Dutch fest. »Die Flut kommt bereits rein - in einer Stunde steht sie über seinem Kopf.« Er lachte. »Da hat er Zeit, über alles nachzudenken.«
Der junge Mann im Rollstuhl, der offenbar alles mitbekommen hatte, stöhnte lauter und versuchte noch heftiger, sich von seinen Fesseln zu befreien. Aber damit erreichte er nur, daß der Rollstuhl tiefer ins Wasser sank.
Im Dunkeln zitterte Jensen unkontrollierbar. Seit er den gefesselten jungen Mann gesehen hatte, war ihm klar, daß er an einem Mord beteiligt sein würde - zumindest duldend, womit der Tatbestand der Beihilfe erfüllt war. Aber er wußte auch, daß er nicht lebend davonkommen würde, wenn er jetzt zu fliehen versuchte. Virgilio würde keine Sekunde zögern, ihn als unerwünschten Augenzeugen zu beseitigen.
In seinem Innersten fragte eine leise Stimme aus der Vergangenheit: Was bin ich? Wann habe ich aufgehört, Mitgefühl zu empfinden?... Und dann erinnerte Jensen sich an eine frühere Einsicht: Der Mensch, der ich früher gewesen bin, existiert nicht mehr.
»Wir gehen«, kündigte Virgilio an.
Als sie ans Ufer zurückwateten und den Rollstuhl mit seinem Insassen im Wasser zurückließen, versuchte Jensen, nicht daran zu denken, wie Stewie Rice sterben würde. Aber er tat es unweigerlich doch. Er stellte sich vor, wie Rice hilflos zusehen mußte, wie die hereinkommende salzige Flut höher, immer höher stieg...
Jensen schaffte es nur mit gewaltiger Willensanstrengung, an etwas anderes zu denken.
An Land ließ Virgilio die anderen Männer stehen und trat dicht an Patrick Jensen heran. »Du behältst diese Sache für dich. Sonst komme ich und leg' dich um.«
»Ich muß dichthalten, stimmt's? Schließlich hab' ich mitgemacht.« Jensen wich keinen Schritt zurück und versuchte, so ruhig wie möglich zu sprechen. Er wollte sich auf keinen Fall von Virgilio einschüchtern lassen.
»Yeah«, gab der große Mann zu. »Du bist mit dabei.«
»Ich muß mal privat mit dir reden«, sagte Jensen halblaut. »Unter vier Augen.«
Virgilio wirkte überrascht. Nach kurzer Pause zog er fragend die Augenbrauen hoch.
»Genau«, bestätigte Jensen, weil er wußte, daß seine unausgesprochene Botschaft angekommen war.
»Ich muß nach Kolumbien«, sagte Virgilio. »Aber ich komme zurück, ich finde dich.«
Jensen wußte, daß er das tun würde. Und er wußte, daß er seinen Killer gefunden hatte.
Einige Harley-Davidson-Fahrer, die am nächsten Morgen vorbeikamen, entdeckten den tief im Wasser stehenden Rollstuhl als erste. Sie fuhren zu Alabama Jack's, einer in der Nähe liegenden beliebten Biker-Bar, und riefen von dort aus die 911 an, um die Metro-Dade Police zu alarmieren. Zwei uniformierte Polizisten und zwei Sanitäter wateten ins Wasser; der ältere der beiden Sanitäter erklärte den Mann für tot. Stewart Rice wurde anhand seiner bei ihm gefundenen Kreditkarten mühelos identifiziert. Unterdessen waren Reporter aus Florida City, die den Polizeifunk abgehört hatten, in Massen herbeigeströmt.
Viele Zeitungen und das Fernsehen verbreiteten dramatische Bilder von der Bergung des Rollstuhls mit der nach vorn gesackten, noch immer gefesselten Gestalt des Ertrunkenen. Unabsichtlich förderten sie damit das Ziel dieses Verbrechens, das anderen - vor allem den Veteranen im Rollstuhl - als Warnung dienen sollte. Da ihre Gruppe und ihre Methoden offenbar bekannt waren, stellten die Rollstuhlfahrer die Überwachung von Dealern ein, so daß die Drogenfahnder aus dieser Quelle keine Tips mehr erhielten.