»Du bist eine hervorragende Anwältin, Schwester Fidelma«, sagte der Brehon.
»Es ist keine große Kunst, ein kluges und ausgefeiltes Argument vorzubringen. Eine größere Gabe ist es, die Wahrheit zu erkennen und zu verstehen.« Sie hielt an der Tür inne und lächelte den Richter an. »Friede mit dir, Brehon der Eóghanacht von Cashel.« Dann war sie fort und schritt über die staubige Straße auf ihr fernes Kloster zu.
GOTTES WILLE GESCHEHE
Schaukelnd machte das Boot an den Granitfelsen fest, die als Anlegestelle dienten, und Fidelma sah, dass sie bereits ein Empfangskomitee erwartete. Es bestand aus einem einzigen Mann: sehr jung, höchstens einundzwanzig Sommer, auf dessen frischem, jugendlichem Gesicht sie schon von weitem einen für sie befremdlichen Unmut und merkwürdige Entschlossenheit erkannte.
Der Bootsmann hielt das schwankende Gefährt fest und bedeutete ihr auszusteigen. Fidelma griff nach der Strickleiter und hangelte sich behende an der Kaimauer hoch. Niemand hätte hinter dem sittsamen Auftreten und dem Habit einer Nonne eine solch mädchenhafte Wendigkeit erwartet. Auch der Mann am Ufer hatte mit einer anderen Erscheinung gerechnet. Ihm war mitgeteilt worden, dass man eine dálaigh, eine Anwältin am Gerichtshof der Brehons, auf die Insel schicken würde. Erstaunt beobachtete er ihre nicht ungefährliche Kletterei, ihre hochgewachsene anmutige Figur, die keck unter der Kopfbedeckung hervordrängenden roten Haarsträhnen, musterte das hübsche Gesicht mit den strahlend grünen Augen. Was er da sah, entsprach nicht seiner Vorstellung von einer Nonne, geschweige denn von einem ehrwürdigen Mitglied der Richterschaft Irlands.
»Schwester Fidelma? Hattest du eine gute Überfahrt?« Er sprach langsam, in gesetztem Ton, nicht unbedingt freundlich, aber doch »korrekt«. Wenn danach gefragt, hätte es Fidelma mit »höflich, aber kühl« abgetan. Ihr eben noch ernstes Gesicht verzog sich zu einem amüsierten Lächeln, was den jungen Mann leicht durcheinanderbrachte. Es passte so gar nicht zu ihrem Status. Es war spitzbübisch frech. Statt einer Antwort auf seine Frage wies sie hinter sich auf die sich brechenden Wogen.
Die Überfahrt zur Insel in dem hässlichen Spätherbstwetter hatte ihr kein Vergnügen bereitet. Schmutzig graue Wellen mit gelblichweißen Schaumkronen waren ihre Begleiter gewesen. Ein kalter und stürmischer Wind hatte sie auf die Felsnase zu getrieben, die wie eine einsame Erhebung in den sich wild gebärdenden Atlantik hineinragte und einst durch die Kraft der Wassermassen vom Festland abgetrennt worden war. Je näher sie der Insel gekommen waren, desto mehr glich das Massiv einem Hahnenkamm. Wie Menschen auf dem ungastlich wirkenden nackten Felsen leben und ihr Auskommen finden konnten, war ihr unverständlich.
Unterwegs hatte ihr der Bootsmann erzählt, dass die Insel nur einhundertundsechzig Bewohner zählte und dass es durchaus Winter geben konnte, in denen sie monatelang abgeschnitten war, weil nicht einmal ein sachkundig gerudertes Boot dort anlanden konnte. Die Inselbevölkerung wäre eine in sich gekehrte, verschworene Gemeinschaft, meist Fischer, und so lange man zurückdenken könnte, hätte es nie einen Todesfall gegeben, der irgendwelche Verdachtsmomente hätte aufkommen lassen.
Damit schien es nun vorbei.
Der junge Mann krauste die Stirn, als er keine Antwort erhielt, und nahm einen erneuten Anlauf.
»Es wäre wirklich nicht nötig gewesen, dich wegen dieses Vorfalls zu bemühen, Schwester Fidelma. Der Fall ist eindeutig. Es gab keinen Grund, dir die Beschwernisse der Reise hierher zuzumuten.«
Sie schenkte ihm ein verbindliches Lächeln. Verständlich, dass er verärgert war. Sie war für ihn eine Fremde, die sich in seinen Zuständigkeitsbereich einmischte.
»Bist du der bó-aire der Insel?«, fragte sie. Selbstbewusst reckte er die Brust. »Der bin ich«, betonte er nicht ohne Stolz. Der bó-aire war der Friedensrichter eines Gerichtsbezirks, ein Mann ohne Landbesitz, dessen Wohlstand nach der Zahl der Kühe, die er besaß, gemessen wurde, weshalb man ihn auch den »Kuhwirt« nannte. In kleinen Ansiedlungen, wie auf den der Küste vorgelagerten Inseln, war ein bó-aire meist auch der Gemeindevorsteher, der seinerseits den Stammesfürsten auf dem Festland unterstand.
»Ich stattete gerade Fathan von den Corco Dhuibhne einen Besuch ab, als ihn die Nachricht von dem Todesfall hier erreichte«, teilte ihm Fidelma sachlich mit.
Fathan war der Stammesfürst, der über all die kleinen Inseln regierte. Die Nennung seines Namens ließ den jungen bó-aire aufhorchen.
»Fathan bat mich, dich aufzusuchen und dich bei der Klärung des Todesfalls zu unterstützen.« Sie fand, eine solche Formulierung war der Sache dienlicher, und vorenthielt dem überheblichen jungen Richter die Worte, die Fathan ihr gegenüber gebraucht hatte. Fathan war bekannt, dass der bó-aire neu auf dem Posten war, und er wusste vor allem, dass der vorliegende Fall des Urteils einer erfahrenen Person bedurfte. »Ich verfüge über Sachkenntnis in Ermittlungen bei undurchsichtigen Begleitumständen von Todesfällen«, setzte sie hinzu.
»In dem vorliegenden Fall gibt es nichts Undurchsichtiges«, erwiderte er gereizt. »Die Frau ist einfach ausgerutscht und den Felsen hinabgestürzt. An der Stelle ist er dreihundert Fuß hoch. Sie hatte keine Überlebenschance.«
»Du bist dir sicher, es war ein Unfall?«
Sie standen immer noch an der Anlegestelle. Der Wind peitschte die salzige Gischt hoch. Trotz des dicken, wollenen Umhangs, in den sie sich für die Überfahrt von An Chúis auf dem Festland zur Insel gehüllt hatte, spürte sie die Nässe.
»Gibt es nicht irgendwo ein Plätzchen, wo wir geschützter sind? Wo wir die Dinge in Ruhe besprechen können?« Sie stellte die zweite Frage, ehe er die erste beantworten konnte. Der tadelnde Hinweis blieb nicht unbemerkt.
»Mein bothán ist nur ein Stückchen den Weg hinauf, Schwester. Lass uns dahin gehen.« Er drehte sich um und stapfte voran.
Ein oder zwei Inselbewohner, denen sie begegneten, nahmen Notiz von ihnen und maßen Schwester Fidelma mit neugierigen Blicken. Nicht lange, und die ganze Insel würde von ihrem Besuch wissen, dachte sie bei sich. Im Sommer mochte so ein Inselleben durchaus romantisch sein, aber selbst den verbrachte sie lieber auf dem Festland, fernab von dem ständig heulenden Wind und der tosenden See.
In der gemütlichen Hütte aus grauem Stein sorgte ein glimmendes Torffeuer für ein wenig Wärme, aber feucht war es dennoch. Eine junge Frau, die zum Haushalt des bró-aire gehörte, brachte ein irdenes Gefäß mit Met, der mit einer in dem Feuer glühend gewordenen Eisenstange heiß gemacht worden war. Das Getränk verbreitete in Fidelmas Körper eine wohlige Wärme und ließ sie wieder aufleben.
»Wie heißt du?«, fragte sie und schlürfte den heißen Met.
»Fogartach.« Es klang etwas steif, denn der junge Mann fühlte sich ermahnt, weil er sich nicht vorgestellt hatte, wie es sich gehört hätte.
Schwester Fidelma fand, es sei an der Zeit, ihrem Gastgeber klarzumachen, mit wem er es zu tun hatte, und ihm sein großspuriges Gebaren abzugewöhnen.
»Welchen Abschluss hast du eigentlich in deiner Stellung als Friedensrichter?«
»Ich habe vier Jahre in Daingean Chúi studiert«, erklärte er mit stolz erhobenem Kopf. »Ich habe den Abschluss eines dos. Das Bretha Nemed, das Gesetz über die Vorrechte des Adels und der gelehrten Stände ist mir geläufig wie jedes andere.«
Schwester Fidelma musste lächeln und hielt mit der Auskunft über ihren Bildungsgrad nicht zurück.