»Ich habe den Rang eines anruth, habe acht Jahre bei Brehon Morann von Tara studiert«, bekannte sie in aller Ruhe.
Er errötete, offensichtlich peinlich berührt, sich mit seinem Studium gebrüstet zu haben. Im Vergleich zu der Ausbildung, über die sie verfügte – der Rang eines anruth stand nur eine Stufe unter den in den fünf Königreichen überhaupt möglichen –, konnte er nur wenig vorweisen. Die Fronten waren geklärt. Mit nur einem Satz hatte sie ihn darauf hingewiesen, wer hier weisungsbefugt war.
»Klarer kann die Sache gar nicht sein«, kam er schmollend auf den Anlass ihres Besuches zurück. »Es war ein Unfall. Die Frau ist ausgerutscht und vom Felsen gestürzt.«
»Dann dürfte die Klärung der Umstände nicht viel Zeit kosten«, erwiderte Fidelma und strahlte ihn an.
»Klärung der Umstände? Ich habe meinen Bericht bereits fertig.« Beleidigt zeigte er auf seine Unterlagen.
»Nichts ist Fathan von den Corco Dhuibhne wichtiger, als dass der Fall eindeutig geklärt ist, Fogartach«, betonte Fidelma. »Weißt du eigentlich, um wen es sich bei der Toten handelte?«
»Sie war wie du eine Nonne.«
»Eine Nonne? Nicht nur das, Fogartach. Sie war Cuimne, die Schwester des Hochkönigs.«
Er runzelte die Stirn. »Dass sie Cuimne hieß, wusste ich, auch dass sie sich mit einer gewissen Würde gab. Dass sie mit dem Hochkönig verwandt war, entzog sich meiner Kenntnis.«
»Dir war nicht bekannt, dass sie Äbtissin Cuimne von Ard Macha war, die persönliche Gesandte des mächtigsten Kirchenmannes in Éireann?«
Beschämt schüttelte der junge Schiedsmann, hochrot geworden, den Kopf.
»Dann ist dir jetzt hoffentlich klar, dass dem Stammesfürsten der Corco Dhuibhne sehr daran gelegen ist, dass es bei der Feststellung der Todesursache keine Ungereimtheiten gibt. Äbtissin Cuimne war eine gewichtige Persönlichkeit, deren Tod weitreichende Folgen sowohl in Tara als auch in Ard Macha nach sich ziehen kann.«
Krampfhaft bemüht, sich zu rechtfertigen, nagte er an den Lippen. »Auf unserer kleinen, sturmgepeitschten Insel zählen Herkunft und Stellung wenig«, erklärte er mürrisch.
»Umso mehr zählt beides für Fathan, denn er ist dem König von Cashel Rechenschaft schuldig, und der wiederum hat sich gegenüber dem Hochkönig und dem Erzbischof von Ard Macha zu verantworten. Aus diesem Grund hat mich Fathan hierher geschickt.« Sie glaubte, ihn nicht länger mit der Wahrheit verschonen zu dürfen, und hielt inne, um ihm Gelegenheit zu geben, das soeben Gehörte verarbeiten zu können. »Gut, lege mir bitte dar, was im Einzelnen du zu dem Vorfall sagen kannst«, verlangte sie dann.
Wohl war ihm nicht bei ihrer Aufforderung, doch fügte er sich und begann: »Die Frau …, hm, Äbtissin Cuimne, kam vor vier Tagen auf die Insel. Sie wohnte in unserem bruighean, dem Gasthaus, das Bé Bail führt. Das ist die Frau von Súilleabháin, dem Habichtsauge, einem Fischer von hier. Bé Bail ist für alles, was mit der Gastwirtschaft zusammenhängt, zuständig. Nicht, dass es viel zu tun gibt, nur wenige Menschen zieht es hierher.«
»Was hat Äbtissin Cuimne hier gewollt?«
Er zuckte mit den Schultern. »Darüber hat sie nichts gesagt. Ich wusste ja nicht mal, dass sie Äbtissin war, hielt sie einfach für eine fromme Schwester, die bei uns eine Weile mit sich allein sein wollte. Du weißt doch am besten, wie es einem als Mitglied einer Gemeinschaft gehen kann. Manch einer sucht ein abgeschiedenes Plätzchen zur Meditation. Was sonst hätte sie hierher verschlagen sollen?«
»Ja, was sonst?«, wiederholte Fidelma seinen Gedanken und bat ihn fortzufahren.
»Sie äußerte gegenüber Bé Bail, sie würde abreisen, und das sollte gestern sein. Ciardhas Boot wurde um die Mittagszeit aus An Chúis erwartet. Nach dem Frühstück packte sie ihre Tasche und wollte sich noch eine Weile auf der Insel umsehen. Als sie bis Mittag nicht zurück war, Ciardhas Boot aber bereits wieder abgefahren war, benachrichtigte mich Bé Bail, man müsste nach dem Rechten schauen. Verlaufen kann sich hier kaum jemand, dafür ist die Insel nicht groß genug. Nach dem Mittag kam dann Buachella angelaufen …«
»Wer ist Buachella?«
»Ein junger Bursche, der Sohn von einem der Inselbewohner.«
»Bitte, fahr fort.«
»Der Junge hatte die Leiche der Äbtissin Cuimne unterhalb der Aill Tuatha entdeckt, das sind die Klippen an der Nordseite der Insel. Ich trommelte ein paar Männer zusammen und auch den Apotheker …«
»Den Apotheker? Ihr habt einen Apotheker hier auf der Insel?« Fidelma staunte.
»Corcrain. Er war früher Leibarzt bei den Eóghanacht von Locha Léin. Nach dem Tod seiner Frau verspürte er das Bedürfnis, sich auf die Insel hier zurückzuziehen. Das war vor einem Jahr. Jetzt gehört er zu unserer Gemeinde und steht mit seiner ärztlichen Kunst den Inselbewohnern zur Seite.«
»Ein paar Männer von der Insel, der Apotheker und du, ihr seid also dem jungen Burschen Buachalla gefolgt?«
»Ja, und haben die Leiche der Äbtissin am Fuße der Klippen gefunden.«
»Wie seid ihr da hinunter gekommen?«
»Das war nicht weiter schwierig. Es gibt unter den Klippen dort einen steinigen Uferrand. Ein leicht gangbarer Pfad führt nach unten. Er geht vielleicht eine halbe Meile abwärts bis zu der Felsengruppe, von der sie abstürzte. Just an der Absturzstelle aber ragen die Klippen besonders steil auf, und direkt darunter haben wir den Leichnam gefunden.«
»Hat Corcrain sie untersucht?«
»Selbstverständlich. Sie war tot. Wir haben sie zurück zu seiner Hütte getragen, wo er sie eingehender untersuchte. Er fand …«
»Ich werde nachher ohnehin mit dem Apotheker sprechen«, unterbrach sie ihn. »Er kann mir selbst erzählen, was er festgestellt hat. Eins hätte ich noch gern gewusst: Habt ihr euch das Umfeld genauer angesehen?«
»Wieso das?«, meinte er leicht irritiert.
Schwester Fidelma stöhnte innerlich auf.
»Als ihr den Leichnam gefunden hattet, was dann?«
»An dem, was geschehen war, gab es keine Zweifel. Äbtissin Cuimne war am Rand der Klippen entlanggewandert, gestrauchelt und hinabgestürzt. Habe ja gesagt, dreihundert Fuß in die Tiefe an der Stelle.«
»Und ihr habt weder oben noch unten die unmittelbare Umgebung einer sorgfältigen Prüfung unterzogen?«
»Ach, du meinst ihre Habseligkeiten?«, ging er mit einem schwachen Lächeln auf sie ein. »Das Wenige, was sie mit sich führte, hatte sie bei Bé Bail im Gasthaus gelassen. Ihr Gepäck bestand ohnehin nur aus einem kleinen Ranzen. Du wirst ja wissen, dass Nonnen nur wenig bei sich haben, wenn sie auf Reisen gehen. Wir hatten also keinen Grund, weitere Umschau zu halten. Im Übrigen ist sie bereits bestattet worden.«
Bei so viel Unbedarftheit, gepaart mit Überheblichkeit, verschlug es Fidelma nahezu die Sprache.
»Wo finde ich Corcrain, den Apotheker?«, fragte sie lediglich.
»Ich bring dich hin«, bot der bó-aire an und stand auf.
»Du brauchst mir nur die Richtung zu zeigen. Man kann sich hier ja nicht verlaufen«, fügte sie noch sarkastisch hinzu.
Er konnte nicht verhehlen, dass ihn ihre Bemerkung ärgerte. Mit diebischem Vergnügen nahm es Fidelma zur Kenntnis. Inselbewohner hielten beharrlich an alten Vorstellungen fest, und sie argwöhnte auch in seinem Fall, dass sein Auftreten etwas mit der Überheblichkeit gegenüber Frauen zu tun hatte.
Corcrains Hütte stand nur zweihundert Yard weiter weg. Sie war eine der geräumigen Steinbauten, die sich wie die Perlen eines Rosenkranzes auf der hügligen Insel aneinanderreihten. Die Hänge erhoben sich unmittelbar vom Ufer und schienen bis an die kammartigen Felswände zu reichen, die das Rückgrat der Insel bildeten und den bebauten Flächen natürlichen Schutz vor den heftigen Nordwinden boten.
Der Apotheker war an die sechzig, ein wettergebräunter Mann, der trotz seines leichten Körperbaus Energie ausstrahlte. Seine grauen Augen funkelten freundlich. »Du bist also die Brehon, die in aller Munde ist?«, begrüßte er sie mit einem arglosen Lächeln.