»Eine Wette? Hat sie sich näher darüber ausgelassen?«
»Ich glaube, es hatte etwas mit ihren Nachforschungen hier zu tun.«
»Aber was sie herauszufinden suchte, weißt du nicht?«
Er schüttelte den Kopf.
»Sie war nicht gerade mitteilsam, eher zurückhaltend. Ich kann mir gut vorstellen, dass der bó-aire nicht mitbekommen hat, wer sie wirklich war. Auch ich habe es nicht gewusst, wenngleich ich mir denken konnte, dass sie keine einfache Nonne war.«
»Nachforschungen?«, grübelte Fidelma.
Er nickte. »Wenngleich ich mir nicht vorstellen kann, was es hier zu forschen gäbe.«
»War sie bestrebt, mit irgendjemand auf der Insel in Kontakt zu kommen?«
Der Apotheker überlegte. »Mit Congal, zum Beispiel.«
»Congal? Wer ist das?«
»Ein Fischer von Beruf. Aber er ist außerdem der ortskundige seanchafí, der Geschichtenerzähler der Insel, der alles über ihre Vergangenheit weiß.«
»Sonst noch jemand?«
»Sie hat auch Pater Patrick aufgesucht.«
»Wen?«
»Pater Patrick, unseren Priester hier.«
Sie waren am Rand der Klippen angelangt. Fidelma musste allen Mut zusammennehmen – so dicht am Rande eines urwüchsigen, sturmgepeitschten Abgrunds zu stehen war ihr zuwider.
»Genau unter dem Klippenrand hier haben wir sie gefunden«, erklärte Corcrain und wies auf die Stelle.
»Woher kannst du das so genau sagen?«
»Der vorstehende Felsbrocken dort ist ein markanter Punkt.« Er zeigte mit der Spitze seines Wanderstabs auf eine Felsnase.
Fidelma bückte sich und suchte eingehend den Boden in der unmittelbaren Umgebung ab.
»Wonach hältst du Ausschau?«
»Könnte ja sein, das restliche Stück Kette liegt hier irgendwo. Ich weiß selbst nicht so recht.«
Sie hielt inne, denn ihr Blick fiel auf einen Flecken, wo der Stechginster umgeknickt und das Gras niedergetreten war. Auch deutliche Abdrücke von Schuhen konnte sie in dem weichen, matschigen Boden erkennen, die trotz des Nieselregens noch nicht verwischt waren. Einzelheiten ließen sich nicht auf Anhieb ausmachen, doch so viel war klar, hier hatte mehr als einer gestanden.
»Du bist sicher, dass es diese Stelle war, von der sie hinuntergestürzt ist?«
Er nickte.
In Fidelmas Gesicht arbeitete es. Aus dem, was sie vor sich sah, konnte man schließen, dass es nicht nur eine Person war, die zwei Yard von dem Fleck, an dem sie jetzt stand, den Pfad verlassen hatte und hier am äußersten Klippenrand stehen geblieben war. Daraus wiederum ergab sich ein anderer, weit wichtigerer Punkt: Wenn Äbtissin Cuimne dem Trampelpfad gefolgt war, der, wie gesagt, keine zwei Yard weiter verlief, konnte man sich schwerlich vorstellen, dass sie rein zufällig ausgerechnet an dieser Stelle abgestürzt sein sollte. Wenn sie hier den Halt verloren hatte, dann nur, weil sie bewusst vom Weg abgewichen, über Stechginster oder anderes Gestrüpp gestolpert und folglich gestürzt war. Sollte es aber kein Unglücksfall gewesen sein, was konnte sich sonst abgespielt haben?
Was den Klippenrand betraf, so ließ Fidelma noch ein anderer Gedanke keine Ruhe. Nur wollte sie sich nicht zu weit vorwagen, um selbst drüberzuschauen, denn sie schreckte vor freien Höhen ohne Geländer zurück.
»Kommt man hier irgendwie anders herunter?«, fragte sie Corcrain.
»Da müsste man schon eine Bergziege sein. Nein, es wäre viel zu gefährlich. Nicht dass ich damit sagen will, es wäre völlig unmöglich, hinunterzugelangen. Wer ein guter Kletterer ist und Erfahrung mit solchen unzugänglichen Stellen hat, könnte den Versuch wagen. Auf der Vorderseite des Abhangs gibt es etliche Höhlengebilde; vor einiger Zeit waren schon mal Leute vom Festland hier und wollten sie erforschen.«
»Von hier aus?«
»Nein. Etwa dreihundert Yard weiter vorn. Aber der bó-aire hat es nicht zugelassen, weil er meinte, es wäre zu gefährlich. Das war vergangenes Jahr.«
Fidelma streifte ihren wollenen Umhang von den Schultern, der sie vor dem feuchtkalten Niederschlag aus den grauen Wolken schützen sollte, und breitete ihn vor sich zum Klippenrand hin aus. Dann ließ sie sich auf die Knie nieder, streckte sich aus dieser Position bäuchlings hin und robbte vor an den Rand, um vorsichtig hinunterzuspähen. Es war, wie der Apotheker gesagt hatte, nur ein geübter Kletterer oder eine Bergziege würden von dieser Stelle einen Abstieg gewagt haben. Ein Schauder überkam sie, als sie auf den felsigen Ufergrund dreihundert Fuß unter sich starrte.
Sie stand wieder auf, strich den Umhang glatt und fragte Corcrain: »Wo finde ich diesen Congal?«
Congal war ein großer Mann. Er hatte einen Teller mit einer riesigen Portion Fisch und einem gekochten Entenei vor sich. Obwohl er am Tisch saß und speiste, steckte er in seiner Fischerkluft; er hielt es nicht für nötig, die Sachen abzulegen, wenn er seinen bothán betrat. Sein massiger Körperbau wurde durch diese Ausstaffierung zusätzlich betont. Seine schwieligen Hände glichen Pranken.
»Eine traurige Geschichte«, stimmte er Schwester Fidelma zu, die ihm gegenüber an dem sauber gescheuerten Tisch aus Kiefernholz saß. Sie tat sich an einer Schale süßen Mets gütlich, die er ihr als Geste der Gastfreundschaft angeboten hatte. »Die Frau hatte noch eine gute Lebensspanne vor sich, aber wenn man sich nicht mit dem felsigen Grund auskennt, sollte man dort besser nicht spazierengehen.«
»Soviel ich weiß, betrieb sie hier irgendwelche Nachforschungen.«
Er runzelte die Stirn.
»Nachforschungen?«
»Sie soll auch mit dir mehrfach gesprochen haben.«
»Kein Wunder, dass sie das tat. Bin schließlich der seanchafí hier. Kenne sämtliche Legenden und Geschichten der Insel«, erklärte er nicht ohne Stolz. Kein Inselbewohner, der sich nicht stolz und selbstbewusst gab, fand Fidelma. Sie hatten ja auch sonst nichts, also verwiesen sie auf das wenige, dessen sie sich rühmen konnten.
»Geschichten aus alten Zeiten? Zeigte sie dafür eine Vorliebe?«
»Ich würde sagen, ja.«
»Ging es ihr dabei um ein besonderes Thema oder eine besondere Geschichte?«
Unschlüssig wiegte er den Oberkörper hin und her.
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Was wollte sie hören?«
»Och, einfach Geschichten aus vergangenen Zeiten, als die Druiden von Iarmuma auf die Priester Christi Jagd machten und sie töteten. Und das ist ja schon ewig her, trug sich zu, noch bevor der heilige Patrick an unsere Ufer kam.«
»Und du hast ihr ein paar Geschichten erzählt?«
Er nickte. »In den heidnischen Zeiten fanden viele Priester Christi auf dieser Insel eine Zuflucht. Als die Mannen des Königs von Iarmuma die Kirchen und Gemeinden niederbrannten, flohen sie hierher.«
Die Auskunft half Schwester Fidelma nicht weiter. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Äbtissin Cuimne auf diese Art Geschichten aus gewesen war. Als Gesandte des Erzbischofs oblag ihr, wie Fidelma wusste, die Verantwortung für eine einheitliche Gottesdienstordnung in Irland.
»Keine Legende, die sie besonders gern hörte?«, versuchte es Fidelma noch einmal.
»Keine.«
Betonte Congal seine Antwort zu entschieden? Wie immer, wenn sie das Gefühl hatte, irgendetwas stimmte nicht, oder wenn jemand mit der vollen Wahrheit hinterm Berg gehalten hatte, spürte Schwester Fidelma ein unangenehmes Kribbeln im Nacken.
Bei ihrer Rückkehr in die Hütte des bó-aire nahm sie sich den Lederranzen vor, der die persönliche Habe der Äbtissin enthielt. Dabei kamen natürlich auch ganz intime Dinge zum Vorschein. Sie ließen Rückschlüsse auf eine Frau zu, die durchaus eitel gewesen war. Es fanden sich einige Kosmetika, ein Krüglein mit Parfüm, ihr Rosenkranz und schließlich ihr Kruzifix – eine großartige Arbeit aus Elfenbein und Gold, die mehr auf Rang und Würde als Schwester des Hochkönigs hinwies als auf ihre Rolle als demütige Nonne. Die Perlen am Rosenkranz waren aus Elfenbein. Auch Kleidungsstücke gehörten zum Inhalt des Ranzens, einem Lederbeutel, wie ihn Mönche und Nonnen unterwegs auf Reisen und Wallfahrten über der Schulter trugen.