Sorgsam ging Schwester Fidelma alle Gegenstände ein zweites Mal durch, erst dann begriff sie, was sie beunruhigte.
»Bist du sicher, Fogartach, dass das hier wirklich alles ist, was Äbtissin Cuimne auf ihrer Reise mithatte?«
Der junge Schiedsmann bestätigte das mit heftigem Kopfnicken, und das gab Fidelma zu denken. Wenn sich die Äbtissin auf der Insel aufgehalten hatte, um irgendwelche Nachforschungen zu betreiben, dann musste sie doch etwas bei sich gehabt haben, um sich Notizen zu machen. Wo, zum Beispiel, war das kleine Missale, das die meisten Nonnen in gehobener Stellung bei sich führten? Vor über hundert Jahren, als irische Mönchen und Nonnen als Missionare in alle Welt auszogen, mussten sie die liturgischen und religiösen Traktate mit auf den Weg nehmen. Das machte es notwendig, Schriften dieser Art so klein zu halten, das man sie in eigens dafür vorgesehenen Lederranzen, den sogenannten tiag liubhar, unterbringen konnte. Mönche, die als Kopisten solcher Bücher tätig waren, begannen folglich, Abschriften in kleinerem Format anzufertigen. Bis auf den heutigen Tag hatten fast alle des Lesens und Schreibens kundigen Mitglieder der Kirche ähnliche Büchlein bei sich. Schwer vorstellbar, dass die Äbtissin nicht einmal ein Messbuch mitgehabt haben sollte.
Ungeduldig trommelte sie mit den Fingern auf der Tischplatte. Wenn sich die Antwort auf das Rätsel nicht auf der Insel finden ließ, dann vielleicht in der Wette mit Artagán, dem Bischof von An Chúis auf dem Festland. Rasch fasste sie einen Entschluss und teilte Fogartach, der sie erwartungsvoll beobachtet hatte, mit: »Ich brauche ein Boot, das mich sofort aufs Festland nach An Chúis schafft.«
Der junge Mann starrte sie überrascht an.
»Bist du hier fertig, Schwester?«
»Das nicht. Aber ich muss so schnell wie möglich mit einer bestimmten Person in An Chúis sprechen. Das Boot muss dort auf mich warten, so dass ich noch am Nachmittag hierher zurückkehren kann.«
Erstaunt erhob sich Bischof Artagán, als Schwester Fidelma in der Abtei von An Chúis sein Arbeitszimmer betrat, nachdem ein Mitglied seines Ordens sie in aller Form angekündigt hatte. Er hatte hier seinen Sitz und lenkte und leitete von dieser Stelle aus die Priesterschaft der Corco Dhuibhne.
»Ich muss dir einige Fragen stellen, Bischof«, verkündete sie, kaum dass die Vorstellungszeremonien erledigt waren.
»Als dálaigh im Rechtswesen steht dir das zu, also frage«, erklärte der Bischof, ein Mann mit schlaffem, ein wenig nervös wirkendem Gesicht, dessen Alter schwer zu schätzen war. Er hatte ihr einen Sitz am wärmenden Feuer angeboten und seine Gastfreundschaft mit heißem Met bewiesen.
»Äbtissin Cuimne …«, begann sie.
»Ich habe die traurige Nachricht vernommen«, unterbrach er sie. »Sie ist zu Tode gestürzt.«
»Richtig. Doch bevor sie auf die Insel reiste, weilte sie hier in der Abtei, nicht wahr?«
»Sie blieb zwei Nächte, wartete auf ruhige See, um zur Insel zu gelangen«, bestätigte er.
»Die Insel liegt in deinem Zuständigkeitsbereich?«
»Ja.«
»Was trieb die Äbtissin auf die Insel? Man spricht davon, sie hätte mit dir eine Wette abgeschlossen über etwas, was sie auf der Insel ausfindig machen würde.«
Müde verzog Artagán das Gesicht.
»Es war eine sinnlose Jagd, die sie sich in den Kopf gesetzt hatte. Ich war mit meiner Wette auf der sicheren Seite.«
»Vielleicht kannst du mir das näher erklären«, verlangte Fidelma, die seine Antwort verdutzte.
»Äbtissin Cuimne war eine starke Persönlichkeit. Das war nicht weiter verwunderlich, schließlich ist sie … war sie die Schwester des Hochkönigs. Sie verfügte über mannigfaltige Talente. Nicht umsonst hat der Erzbischof von Armagh sie als seine persönliche Gesandte ernannt. Als solche sollte sie in den Klöstern und Kirchen von Éireann einheitliche Regeln für die Feier der heiligen Messe durchsetzen. Ich bin ihr nur zwei Mal begegnet. Einmal auf der Synode zu Cashel und dann jetzt, als sie hier blieb, bevor sie auf die Insel übersetzte. Sie vertrat Ansichten, die es einem schwermachten, mit ihr darüber zu debattieren.«
»Wie meinst du das?«
»Hast du schon mal von der Legende vom Reliquiar des heiligen Palladius gehört?«
»Erzähl«, forderte sie ihn auf und überspielte so ihre Verwirrung.
»Wie du weißt, war vor zweieinhalb Jahrhunderten die christliche Gemeinde in Éireann sehr klein und vergrößerte sich nach dem Willen Gottes, als die Menschen sich dem Wort Christi zuwandten. Damals hatten sie zahlenmäßig so zugenommen, dass sie Vertreter in die heilige Stadt Rom schickten, um Papst Coelestin, den ersten des Namens, der auf dem Thron von Peter, dem Jünger Christi, saß, zu bitten, ihnen einen Bischof zu senden. Sie wollten jemand haben, der sie unterweisen würde, wie man den Vorstellungen des Lebendigen Gottes richtig folgen könnte. Coelestin ernannte einen Mann namens Palladius als den ersten Bischof für die Iren, die sich zu Christus bekannten.«
Artagán machte eine Pause, ehe er fortfuhr.
»Es gibt zwei Versionen der Geschichte. In der ersten heißt es, Palladius wäre auf dem Weg nach Éireann in Gallien erkrankt und dort gestorben. In der zweiten erreichte Palladius unsere Ufer und unterwies auch die Iren, wurde dann aber von einem erzürnten Druiden, der in den Diensten des Königs von Iarmuma stand, hinterrücks ermordet.«
»Beide Versionen sind mir bekannt«, meinte Schwester Fidelma. »Nach Palladius’ Tod wurde der heilige Patrick, der damals in Gallien studierte, zum Bischof in Irland ernannt und kehrte somit in das Land zurück, in dem man ihn einst als Geisel festgehalten hatte.«
»Du hast vollkommen recht«, stimmte ihr Artagán zu. »In den Jahren nach Palladius’ Tod entstand dann eine Legende: Die sterblichen Überreste des Heiligen kamen in ein Reliquiar, in ein Kästchen mit einem dachähnlichen Deckel von etwa sechs Zoll Länge, vier Zoll Breite und zwei Zoll Höhe. Solche Reliquiare sind meist aus Holz, oft Eibe, innen mit Blei ausgekleidet und außen vergoldet und reich verziert mit einer Kupferlegierung, Blattgold, Bernstein und Glasperlen. Wunderschön gefertigte Stücke.«
Schwester Fidelma nickte, wenngleich eher ungeduldig. In den großen Abteien von Éireann hatte sie mehr als genug solcher kostbaren Arbeiten gesehen.
»Der Legende nach wurden ursprünglich die sterblichen Überreste von Palladius in Cashel aufbewahrt, dem Sitz der Eóghanacht-Könige von Munster. Vor etwa zweihundert Jahren kam es dann zu einer Wiederbelebung der Glaubensauffassungen der Druiden in Iarmuma. Der König von Iarmuma griff die alte Religion auf, und es begann eine unbarmherzige Verfolgung der christlichen Gemeinden. Cashel wurde gestürmt, doch die Reliquie wurde aufs Land in Sicherheit gebracht. Man schickte sie von Ort zu Ort, bis die sterblichen Überreste unseres ersten Bischofs schließlich auf die Inseln geschafft wurden, um sie vor dem wütenden Treiben zu bewahren. Dort verschwanden sie dann.«
»Erzähl weiter«, drängte ihn Fidelma, als er schwieg.
»Überleg mal selbst. Was für ein Aufsehen würde es erregen, wenn wir nach all den Jahren die sterblichen Überreste des ersten Bischofs von Éireann entdeckten! Der Ort, an dem sie angeblich ruhen, würde zu einem einzigartigen Wallfahrtsort werden, man würde eine prächtige Abtei dort errichten, die die Menschen aus aller Welt anziehen würde …«
»Willst du damit sagen, Äbtissin Cuimne hätte sich zur Insel aufgemacht, um das Reliquiar des Palladius zu suchen?«
Bischof Artagán nickte.
»Sie berichtete mir, dass sie in der berühmten Bibliothek von Ard Macha auf alte Manuskripte gestoßen sei, aus denen hervorging, man hätte seinerzeit die Reliquie auf einer der dem Festland der Corco Dhuibhne vorgelagerten Inseln in Sicherheit gebracht. Die Manuskripte wollte sie mir nicht zeigen. Angeblich enthielten sie Hinweise auf diesen Ort. In einer alten Handschrift sei die Rede davon gewesen, dass während der Verfolgungen unter dem König von Iarmuma Priester auf die Inseln geflohen wären, nur meine ich, wir wüssten davon, wenn die heilige Reliquie dort gelandet wäre«, schloss er seine Ausführungen abschätzig.