Congal schaute Schwester Fidelma an und deutete den überraschten Ausdruck in ihrem Gesicht auf seine Weise.
»Hat dir Pater Patrick gesagt …? Was genau hat er dir gesagt?«, wollte er wissen und beobachtete sie argwöhnisch.
An der Tür klopfe es heftig, und ehe Congal darauf reagieren konnte, steckte schon der junge bó-aire den Kopf hinein. Er war sichtlich erregt.
»Ah, Schwester, da bist du ja. Corcrain, der Apotheker, bittet dich, sogleich zu Pater Patrick zu kommen. Es steht schlecht um ihn, aber er wünscht dich zu sprechen.«
Corcrain erwartete sie an Pater Patricks Tür.
»Ich fürchte, er macht es nicht mehr lange. Kurz nachdem du gegangen warst, erlitt er den dritten Herzanfall, mit dem man rechnen musste. Er verlangt nach dir, will dich ohne Beisein eines anderen sehen. Ich warte draußen, falls ich gebraucht werde.«
Der alte Mann lag im Bett, die Haut auf dem matten Gesicht zeigte einen bläulichen Schimmer. Die Lider flackerten unstet, und wieder diese farblosen, blassen Augen.
»Du weißt es, meine Tochter, nicht wahr?«
Sie beschloss, bei der Wahrheit zu bleiben.
»Ich ahne es«, verbesserte sie.
»Wie auch immer, ich muss mit Gott meinen Frieden schließen. Besser, du weißt die Wahrheit, als dass ich dahinscheide und die Erinnerung an mich von einem Verdacht beschattet wird.«
Er machte ein lange Pause.
»Die Reliquie ist hier. Priester, die vor über zweihundertfünfzig Jahren vor König Iarmumas Kriegern flohen, brachten sie hierher und versteckten sie in einer Höhle. Seit Generationen weiß nur der jeweilige Priester der Insel um das Geheimnis und auch, um welche Höhle es sich handelt, und gibt sein Wissen schließlich an seinen Nachfolger weiter. Zuweilen geschah es, dass die Insel ohne Priester war, dann wurde ein Inselbewohner ins Vertrauen gezogen. So war gewährleistet, dass das sorgsam gehütete Geheimnis von Generation zu Generation überliefert wurde. Ich kam vor sechzig Jahren als junger Priester hierher und wurde von meinem Vorgänger, dessen Amt ich übernehmen sollte, eingeweiht.«
Wieder musste er eine Pause machen, um mehrfach tief Atem zu schöpfen.
»Dann tauchte Äbtissin Cuimne auf. Eine äußerst kluge Frau. Sie war auf Beweismaterial gestoßen. Sie ging zu Congal, um mit Hilfe der Legenden mehr zu erfahren; er kennt eine Menge, nur wo die Reliquie liegt, weiß er nicht. Er hat versucht, sie von weiteren Nachforschungen abzuhalten und ihr das meiste vorenthalten, was fast einer Lüge gleichkam. Dann suchte sie mich auf. Zu meinem Entsetzen hatte sie ein Stück Pergament mit verschiedenen Notizen, geschrieben von keinem geringeren als dem heiligen Patrick. Als Palladius starb, hatte der Papst ihn zu dessen Nachfolger ernannt und als Bischof zu den Iren geschickt. Das Pergament enthielt eine Landkarte mit eingezeichneten Hinweisen, die für einen Uneingeweihten nutzlos waren, aber für einen, der wusste, was er suchte, Aufschluss gaben über das Wo und Wohin.
Äbtissin Cuimne hatte von allerlei Legenden gehört, fand in der berühmten Bibliothek von Ard Macha in einer alten Handschrift des heiligen Patrick das Schriftstück und reimte sich die Dinge klug zusammen.«
»Und du hast versucht, sie von weiteren Nachforschungen abzuhalten?«
»Ich habe alles daran gesetzt, sie davon zu überzeugen, dass Legenden nicht unbedingt auf Wahrheit beruhen. Aber sie ließ sich nicht beirren.«
»Und dann?«
»Dann sprach ich mit ihr ganz offen. Ich beschwor sie, der Insel die Folgen zu ersparen, die eine Verlautbarung der Nachricht, dass hier das Reliquiar verborgen ist, nach sich ziehen würde. Ich wies sie auf die drohenden Gefahren für die Gemeinde hin. Ich wusste, was da auf uns zukommen würde. Du hast selbst Vorstellungskraft genug, Schwester Fidelma. Überleg mal, was bei einer Verbreitung einer solchen Nachricht aus dieser friedlichen kleinen Insel werden würde, aus dieser mit sich zufriedenen kleinen Gemeinde.«
»Könnte man das Reliquiar nicht von der Insel schaffen? Zum Beispiel nach Cashel oder sogar nach Ard Macha?«
»Damit würde die Insel des heiligen Schutzes verlustig gehen, den sie als Ruhestätte für die geheiligten Gebeine genießt. Nein. Die Reliquie wurde aus gutem Grund hierhergebracht, und hier muss sie auch bleiben.«
Die letzten Sätze hatte der alte Priester mit aller Entschiedenheit gesprochen. Es hatte ihn Kraft gekostet, und er schwieg eine Weile.
»Ich habe ihr auszumalen versucht, was für ein Unglück das wäre«, nahm er wieder das Wort. »Wir haben doch oft genug gesehen, wie es anderen Gemeinden ergangen ist, wenn bei ihnen unerwartet Reliquien ans Tageslicht befördert wurden oder man irgendwelche Wunder gesehen haben wollte. Riesige Abteien wurden gebaut und Schreine errichtet. Kleine Gemeinschaften gingen zugrunde. Kleine fromme Wallfahrtsorte wurden über Nacht zu auf Gewinn bedachten Unternehmen. Zerstörung sondergleichen. Alles Dinge, die unser Heiland verabscheute. War er es doch, der die Händler und Geldwechsler aus dem Tempel verjagte! Wie würde er da erst heute gegen die vorgehen, die seine Lehre nutzen, um schnöden Gewinn daraus zu schlagen? Nein, eine solche Zukunft möge unserer Insel erspart bleiben. Das würde unseren Lebenswandel und unser ganzes Denken und Fühlen zunichte machen.«
Erneut hatte sich seine Stimme zu voller Kraft aufgeschwungen.
»Was hast du getan, als die Äbtissin deine Vorhaltungen missachtete?«, fragte Schwester Fidelma und blieb ruhig.
»Anfangs hoffte ich noch, sie würde die Zeichen nicht richtig deuten können, die den Weg zum Fundort wiesen. Doch sie konnte es. Es war an dem Morgen des Tages, an dem sie abreisen wollte …«
Er brach ab, verzog das Gesicht vor Schmerz und rang nach Luft. Fidelma wollte schon den Apotheker rufen, aber er wehrte ab. Sie wartete geduldig, bis er schließlich weitersprach.
»Rein zufällig sah ich Äbtissin Cuimne auf dem Pfad, der nach Aill Tuatha, der Nordklippe, führt. Ich folgte ihr und hoffte im Stillen, sie hätte nicht ein bestimmtes Ziel im Auge. Aber sie wusste, wohin sie wollte.«
»Ist dort die Reliquie verborgen? In einer der Höhlen an der Felswand Aill Tuatha?«
Er nickte ergeben.
»Die Äbtissin begann hinunterzuklettern. Sie hatte es sich leicht vorgestellt. Ich versuchte, sie zurückzuhalten, warnte sie vor den Gefahren.«
Wieder schwieg er. Die wässrigen Augen verrieten tiefe innere Bewegung.
»Bald werde ich vor meinem Gott stehen. Auf der Insel gibt es keinen anderen Priester. Ich muss meinen Frieden mit dir schließen, meine Tochter. Was ich jetzt sage, ist das, was ich zu bekennen habe. Verstehst du?«
Zwei Seelen kämpften in ihrer Brust. Sie musste sich entscheiden zwischen ihrer Rolle als Anwältin beim Gericht der Brehons und der als Mitglied eines religiösen Ordens, womit sie zur Wahrung des Beichtgeheimnisses verpflichtet war.
»Ich verstehe, Pater.« Sie nickte ihm beruhigend zu. »Was also geschah?«
»Die Äbtissin machte sich an den Abstieg zum Höhleneingang. Ich warnte sie laut, wenn es denn schon sein müsste, so wäre äußerste Vorsicht geboten. Ich wagte mich an den Klippenrand vor und beugte mich hinunter, just in dem Moment, als sie den Halt verlor. Sie streckte die Hand nach oben und bekam mein Kruzifix zu fassen, das ich an einer silbernen Kette um den Hals trug. Die Kette hielt dem Gewicht nicht stand. Ich griff nach ihr, konnte sie auch einen Moment an Schultern und Nacken packen. Doch ich bin alt, und mir fehlt es an Kraft. Sie entglitt meinen Händen und stürzte in die Tiefe.«
Erschöpft von dem vielen Sprechen, rang er nach Atem. Fidelma beobachtete ihn angespannt und wagte dennoch, ihn zum Weiterreden zu drängen.