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»Und was geschah dann?«

»Ich lugte hinunter und sah, sie war tot. Ich kniete nieder und betete in dem Bestreben, sie von ihren Sünden freizusprechen, von denen Verwegenheit und Hochmut die einzigen waren, die ich hätte nennen können. Dann kam mir ein Gedanke, der immer stärker wurde und mich tröstete. Wir sind alle in Gottes Hand. Was, wenn Er eingegriffen hatte? Er hätte die Äbtissin durchaus retten können. Stattdessen war es vielleicht Sein Wille gewesen, dass Er es geschehen ließ und das Reliquiar wie durch ein Wunder unentdeckt blieb. Ein Tod, um ein größeres Übel, die Vernichtung unserer Gemeinde, zu vermeiden. Die Vorstellung ist mir Trost gewesen. Ich nahm mein Kruzifix auf, an dem einige Glieder der Kette fehlten, kehrte zu dem Pfad zurück und zwang mich, hinunter ans Ufer zu gehen und nach ihr zu schauen. Ich fand ihr Missale und darin das Pergament mit den Aufzeichnungen des heiligen Patrick, die ihr ein Anhaltspunkt gewesen waren. Ich nahm beides an mich und kehrte hierher zurück. Es war töricht von mir, ich hätte das Messbuch an Ort und Stelle lassen und nur den Pergamentstreifen daraus entwenden sollen. Ein geübtes Auge würde sich zu Recht wundern, weshalb sie kein Messbuch bei sich hatte. Aber ich war zu erschöpft, um mir darüber Gedanken zu machen, und mein Gesundheitszustand war nicht der beste. Für mich war entscheidend: Die Reliquie war sicher …, so glaubte ich jedenfalls.«

Verständlich, dass Schwester Fidelma einen tiefen und sorgenvollen Seufzer von sich gab, ehe sie die Frage wagte:

»Was hast du mit dem Pergament getan?«

»Gott möge mir vergeben, denn obwohl es die Schriftzüge des heiligen Patrick trug, habe ich es vernichtet, in meinem Herdfeuer verbrannt.«

»Und was ist mit dem Missale?«

»Es liegt dort auf dem Tisch. Vielleicht schickst du es ihren Angehörigen.«

»Hast du sonst noch etwas zu sagen?«

»Nein, das ist alles, meine Tochter. Nur lässt mir mein Gewissen keine Ruhe. Darf ich mir anmaßen, zu glauben, Gott würde einen Mord verfügen … selbst für einen geheiligten Zweck? Die Sünde, dass ich es unterlassen habe, den bó-aire über das wahre Geschehen ins Bild zu setzen, wiegt schwer. Aber für mich war entscheidend, das Geheimnis der Reliquie zu wahren. Ich fühle den Tod nahen. Irgendjemandem musste ich das Geheimnis anvertrauen. Vielleicht hat es Gott so gewollt, dass du, die du nichts mit dieser Insel zu tun hast, die Wahrheit erfährst, zumal du sie zum Teil schon wusstest. Wie heißt es doch in dem alten lateinischen Hexameter? Quis, quid, ubi, quibus auxiliis, cur, quomodo, quando?«

Schwester Fidelma schenkte ihm ein warmes Lächeln.

»Wer ist der Verbrecher? Worin besteht das Verbrechen? Wo wurde es begangen? Mit welchen Mitteln? Warum? Auf welche Art und Weise? Wann?«

»Genau so, meine Tochter. Auf all das hast du jetzt eine Antwort. Du hast Congal oder auch mich eines dunklen Verbrechens verdächtigt. Es gab kein Verbrechen. Wenn es als ein solches angesehen wird, dann geschah es durch ein Wunder. Mir blieb nur die Wahl, dir alles wahrheitsgemäß zu erzählen und das Schicksal der Insel und seiner Bewohner in deine Hände zu legen, meine Tochter. Bist du dir dessen bewusst, was das bedeutet?«

Schwester Fidelma nickte langsam.

»Ja, Pater.«

»Dann habe ich hinter mich gebracht, was ich längst hätte tun sollen.«

Draußen vor der Klause des Priesters hatten sich Inselbewohner versammelt. Sie alle starrten Schwester Fidelma an, die einen neugierig, die anderen feindselig. Auch Corcrain schaute sie fragend an, aber sie ließ ihn mit seiner Ungewissheit allein. Ihr ging es darum, zuallererst Congal ausfindig zu machen und ihm von der Höhle an der Steilküste von Aill Tuatha zu berichten. Das Wissen um das, was es mit ihr auf sich hatte, lag in seiner Verantwortung, damit wollte sie sich nicht belasten.

Die Möwen schwebten über die Anlegestelle aus grauem Granitgestein, schrien und stießen im Sturzflug nieder. Manchmal schien es, als hielten die stürmischen Winde sie gefangen und hinderten sie am Weiterfliegen, aber schon im nächsten Moment schlugen sie mit den Schwingen und stiegen erneut auf und nieder. Die See war kabbelig. Trotz des feuchtgrauen Nebels konnte Fidelma Ciardhas Boot ausmachen, das sich durch die Wellen kämpfte und den Hafen der Insel ansteuerte. Bekümmert stellte sie fest, dass ihre Rückfahrt nach An Chúis nicht gerade gemütlich werden würde.

Mit dem Boot erwartete man einen jungen Priester, der die Nachfolge von Pater Patrick auf der Insel antreten sollte. Der alte Mann war in einen friedlichen Schlaf gefallen und wenige Stunden, nachdem Fidelma ihn verlassen hatte, aus dem Leben gegangen.

Für Fidelma war es eine schwierige Entscheidung gewesen. Sie war in die Hütte des bó-aire zurückgekehrt und hatte im Lichte dessen, was sie inzwischen erfahren hatte, die ganze Nacht über dessen Bericht gebrütet.

Jetzt stand sie und erwartete die Ankunft des Bootes, das sie wieder von der Insel bringen sollte, neben ihr der nervös dreinschauende junge Schiedsmann.

Das Boot hatte sein Ziel erreicht. Taue wurden geworfen und festgezurrt, und die wenigen Fahrgäste begannen, sich die Strickleiter hochzuhangeln. Als Erster erschien ein junger Mann mit klaren, fast noch jungenhaften Gesichtszügen. Er bewegte sich in seinem Habit, als trüge er ein neu erworbenes Symbol zur Schau. Congal und Corcrain waren zugegen und nahmen ihn in Empfang.

Schwester Fidelma betrachtete ihn kopfschüttelnd. Der Neuankömmling machte den Eindruck, als wüsste er noch nicht, wie man mit einem Rasiermesser umgeht, und sollte doch schon hundertundsechzig Seelen ein Vater sein. Sie wandte sich dem Friedensrichter neben ihr zu und streckte ihm die Hand entgegen. »Vielen Dank für deine Hilfe und Gastfreundschaft, Fogartach. Ich werde dem Obersten Brehon und auch Fathan von den Corco Dhuibhne Bericht erstatten. Wenn das erledigt ist, werde ich mit Freuden meine unterbrochene Reise fortsetzen und zur Abtei von Kildare zurückkehren.«

Der junge Mann hielt ihre Hand etwas länger fest als schicklich und suchte ihren Blick.

»Und mein Bericht, Schwester?«

Sie drehte sich um und begann den Abstieg. Auf der obersten Leitersprosse blieb sie kurz stehen. Zwar war er ein eingebildeter Bursche, aber sie durfte nicht weiter mit ihm Katz und Maus spielen.

»Es ist, wie du gesagt hast, Fogartach, der Fall liegt eindeutig. Äbtissin Cuimne ist gestrauchelt und zu Tode gestürzt. Ein tragischer Unfall.«

Das Gesicht des bó-aire entspannte sich. Zum ersten Mal zeigte er ein Lächeln, und er hob die Hand zum Gruß.

»Ich hab durch dich manches hinzugelernt, anruth am Gerichtshof der Brehons«, rief er ihr etwas steif zu. »Gott möge dich auf deiner Reise schützen, auf dass du wohlbehalten dein Ziel erreichst!«

Schwester Fidelma lächelte zurück und hob gleichfalls die Hand. »Jedes erreichte Ziel ist nur das Tor zum nächsten, Fogartach«, rief sie, lachte verschmitzt, stieg die Leiter hinab und sprang ins Heck des sanft schaukelnden Bootes.

EIN LOBGESANG FÜR WULFSTAN

Abt Laisran strahlte. Er war ein kleiner, rundlicher Mann mit roten Wangen, und sein Gesicht sah immer fröhlich aus. Denn er war mit der seltenen Gabe des Humors und der Vorstellung geboren, die Welt sei ihren Bewohnern zur Freude geschaffen. Sein Lächeln kam aus tiefstem Inneren. Und wenn er lachte, schien die Erde zu beben.

»Wie schön, dich wiederzusehen, Fidelma!«, dröhnte Laisrans Stimme. Man hörte, dass dies keine leeren Worte waren, sondern dass er sich ehrlich über ihre Begegnung freute.

Schwester Fidelma reagierte mit einem beinahe spitzbübischen Grinsen, das nicht recht zu ihrer Ordenstracht und ihrem Rang passen wollte. Wer die junge Frau näher betrachtete und das rote Haar sah, das unter ihrer Haube hervorquoll, wer das Lachen, das ständig in ihren grünen Augen aufblitzte, und die natürliche Fröhlichkeit auf ihrem frischen, hübschen Gesicht bemerkte, dem konnte sich tatsächlich die Frage aufdrängen, warum eine so attraktive junge Frau sich für das Leben einer Nonne entschieden hatte. Ihre hoch aufgeschossene, wohlproportionierte Figur schien ein Verlangen nach einem weit aktiveren Leben auszudrücken, als es in einem Kloster möglich war.