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»Warum schickt ihr dann nicht eine der beiden Gruppen in ein anderes Zentrum der Gelehrsamkeit?«

Laisran schnaubte verächtlich.

»Das hat ausgerechnet Finan auch schon vorgeschlagen. Es wäre eine ordentliche, praktische und logische Lösung des Problems. Die Frage ist nur … Wen sollen wir wegschicken? Sowohl die Britannier als auch die Angelsachsen weigern sich zu gehen, und jede Gruppe verlangt, wenn überhaupt jemand Durrow verlässt, sollen es die anderen sein.«

»Da habt ihr allerdings ein Problem«, meinte Fidelma.

»Ja. Beide Gruppen sind jähzornig und nachtragend, vergessen kaum je eine ihnen zugefügte Beleidigung, ob sie nun wirklich oder nur eingebildet war. Ein junger angelsächsischer Prinz, Wulfstan, ist besonders arrogant. Sein Gefolge besteht aus siebzehn Männern. Er kommt aus dem Land der südlichen Angelsachsen, einem der kleineren angelsächsischen Königreiche. Doch wenn man ihn reden hört, könnte man meinen, dass sein Königreich das größte der Welt ist. Er ist gewaltig mit der Sünde des Stolzes geschlagen. Nach seinem ersten Zwist mit den Britanniern verlangte er, man solle ihm ein Zimmer geben, dessen vergittertes Fenster gegen Eindringlinge gesichert ist und dessen Tür sich von innen verriegeln lässt.«

»Ein seltsames Ansinnen in einem Haus Gottes«, stimmte ihm Schwester Fidelma zu.

»Das habe ich ihm auch gesagt. Aber er erwiderte mir, er fürchte um sein Leben. Und wirklich war sein Verhalten so ängstlich, schien mir seine Furcht so echt, dass ich beschloss, seine Sorge zu lindern und ihm ein solches Zimmer zu überlassen. Er bewohnt nun einen Raum mit einem Gitter vor dem Fenster, in dem wir früher einmal Übeltäter eingesperrt haben. Unser Zimmermann hat die Tür so verändert, dass sie sich von innen verriegeln lässt. Wulfstan ist ein seltsamer junger Mann. Er geht nirgendwohin ohne seine Leibwache, die aus fünf Männern besteht. Nach der Vesper zieht er sich in sein Zimmer zurück, lässt es aber zuvor von seiner Leibgarde durchsuchen. Erst dann begibt er sich selbst hinein und verriegelt sofort die Tür. Bis zum Angelusläuten am nächsten Morgen bleibt er dort.«

Schwester Fidelma spitzte nachdenklich die Lippen und schüttelte verwundert den Kopf.

»Wahrhaftig, man würde meinen, dass er sehr bedrückt und ängstlich ist. Hast du mit den Britanniern gesprochen?«

»Das habe ich sehr wohl getan. Talorgen zum Beispiel gibt offen zu, dass für ihn alle Angelsachsen Blutsfeinde sind, dass er sich aber nicht so sehr vergessen würde, in einem Haus Gottes angelsächsisches Blut zu vergießen. Ganz im Gegenteil, der junge Britannier verwies nachdrücklich darauf, sein Volk sei schon vor Jahrhunderten zum Christentum übergetreten und habe im Gegensatz zu den Angelsachsen noch nie auf geheiligtem Boden Krieg geführt. Er erinnerte mich daran, dass noch vor kaum einem halben Jahrhundert der angelsächsische Krieger Aethelfrith von Northumbria Selyf map Cynan von Powys in einer Schlacht bei einem Ort namens Caer Legion besiegt hat, dann aber seinen Sieg entweiht hat, indem er tausend britannische Mönche aus Bangor-is-Coed niedermetzelte. Er behauptete, die Angelsachsen seien kaum in Gedanken Christen, noch viel weniger in Worten und Werken.«

»Mit anderen Worten …?«, wollte Fidelma dem Abt auf die Sprünge helfen, während Laisran eine Pause machte, um einen Schluck Wein zu trinken.

»Mit anderen Worten: Talorgen würde keinem Angelsachsen ein Haar krümmen, der auf dem geheiligten Boden eines christlichen Hauses Schutz genießt, aber er hat auch keinen Zweifel daran gelassen, dass er nicht zögern würde, Wulfstan außerhalb dieser Mauern zu erschlagen.«

»So viel zum Thema christliche Nächstenliebe und Vergebung.« Fidelma seufzte.

Laisran verzog schmerzlich das Gesicht. »Man darf nicht vergessen, dass den Britanniern in den letzten Jahrhunderten von den Angelsachsen Schlimmes angetan wurde. Schließlich sind die Angelsachsen in ihr Land eingefallen und haben den größten Teil davon erobert. Irland musste ganze Heerscharen von Flüchtlingen aufnehmen, die vor den angelsächsischen Eroberern ihres Reiches flohen.«

Fidelma lächelte traurig. »Entdecke ich in deinen Worten eine gewisse Zustimmung zu Talorgens Einstellung?«

Laisran grinste.

»Wenn du mich als Christen fragst, dann nein, nein, natürlich nicht. Wenn du mich als Mann eines Volkes fragst, das einmal mit unseren Vettern, den Britanniern, einen gemeinsamen Ursprung, einen gemeinsamen Glauben und ein gemeinsames Gesetz geteilt hat, dann muss ich dir sagen, dass ich insgeheim Talorgens Zorn nachempfinden kann.«

Plötzlich hämmerte jemand an die Tür des Arbeitszimmers, so laut und unvermittelt, dass Laisran und Fidelma zusammenzuckten. Ehe der Abt noch Zeit hatte, etwas zu rufen, flog die Tür auf, und ein Mönch mittleren Alters kam atemlos und mit hochrotem Kopf ins Zimmer gestürzt.

Mit bebenden Schultern und fliegendem Atem blieb er nach wenigen Schritten stehen.

Laisran erhob sich. Auf seiner Stirn zeigte sich eine für ihn ungewöhnliche Zornesfalte.

»Was hat das zu bedeuten, Bruder Ultan? Hast du den Verstand verloren?«

Der Mann schüttelte mit weit aufgerissenen Augen den Kopf. Er schnappte nach Luft, versuchte wieder zu Atem zu kommen.

»Gott schütze uns vor allem Bösen«, keuchte er schließlich. »Es ist ein Mord geschehen.«

Laisran erschrak.

»Ein Mord, sagst du?«

»Wulfstan, der Angelsachse, Bruder Abt! Er wurde in seiner Kammer erstochen.«

Laisran erbleichte und warf Schwester Fidelma einen erschrockenen Blick zu. Dann wandte er sich mit ernster Miene wieder Bruder Ultan zu.

»Fasse dich, Bruder«, sagte er freundlich, »und erzähle mir langsam und sorgfältig, was geschehen ist.«

Bruder Ultan schluckte nervös und versuchte, seine Gedanken zu sammeln.

»Eadred, Wulfstans Gefährte, kam am späten Morgen zu mir. Er war sehr besorgt. Wulfstan hatte nicht am Morgengebet teilgenommen und auch im Unterricht gefehlt. Niemand hatte ihn gesehen, seit er sich gestern Abend nach der Vesper in sein Zimmer zurückgezogen hatte. Darauf war Eadred zu seinem Zimmer gegangen und hatte die Tür verschlossen gefunden. Auf sein Rufen erhielt er keine Antwort. Also kam er zu mir, da ich der Verwalter hier bin. Ich begleitete ihn zu Wulfstans Zimmer. Und ganz richtig, die Tür war verschlossen und von innen verriegelt.«

Er hielt einen Augenblick inne und fuhr dann fort: »Nachdem ich mehrmals angeklopft hatte, brach ich mit Eadreds und seines Vetters Hilfe die Tür auf. Das dauerte eine Weile, und ich musste erst noch zwei Brüder zu Hilfe rufen, denn die Tür war von innen gesichert. In der Kammer …« Er biss sich auf die Unterlippe und erblasste bei der Erinnerung.

»Sprich weiter«, gebot ihm Laisran.

»In der Kammer befand sich der Leichnam Wulfstans. Er lag hinten auf seinem Bett. Er trug ein Nachthemd, das mit verkrustetem Blut besudelt war, und hatte an der Brust und am Bauch mehrere Wunden. Man hatte offenbar mehrmals auf ihn eingestochen.«

»Was dann?«

Inzwischen hatte sich Bruder Ultan wieder besser in der Gewalt. Er zuckte nur mit den Achseln.

»Ich weiß es nicht. Ich habe die beiden Brüder als Wachen vor dem Zimmer zurückgelassen. Und Eadred habe ich angewiesen, in sein Zimmer zurückzugehen und niemandem ein Wort zu verraten, ehe ich nach ihm schicke. Dann bin ich sofort zu dir geeilt, um dir Bericht zu erstatten, Bruder Abt.«

»Wulfstan ermordet?«, flüsterte Laisran und dachte sogleich an die Folgen. »Gnade uns Gott, wahrhaftig. Das Land der südlichen Angelsachsen mag ein kleines Königreich sein, aber man hält dort gegen alle Fremden fest zusammen. Es könnte durchaus zu einem Krieg zwischen den Angelsachsen und Éireann kommen.«