Schwester Fidelma presste die Lippen aufeinander, stand eine Weile ruhig da und starrte auf die Tür, ehe sie sich umwandte und die Todeskammer verließ.
In Abt Laisrans Zimmer setzte sich Schwester Fidelma an den langen Tisch. Sie hatte mit dem Abt vereinbart, dass sie jeden befragen dürfte, von dem sie glaubte, er könnte ihr bei der Lösung des Problems behilflich sein. Laisran hatte ihr angeboten, bei den Befragungen anwesend zu sein, doch das hatte sie nicht für notwendig erachtet. Der Abt hatte sich in ein Nebenzimmer zurückgezogen, ihr aber eine Glocke gegeben, mit der sie ihn jederzeit herbeirufen konnte, falls sie seine Hilfe brauchte.
Bruder Ultan wurde dazu abgestellt, diejenigen herbeizuholen, die sie befragen wollte. Er wurde unverzüglich losgeschickt, um Wulfstans Gefährten Eadred, den zweiten angelsächsischen Prinzen, herbeizuschaffen, der Ultan zusammen mit seinem Vetter Raedwald geholfen hatte, die Tür von Wulfstans Kammer aufzubrechen.
Eadred war ein hochmütiger Jüngling mit flachsblondem Haar und kalten, ausdruckslosen blauen Augen. Seine Gesichtszüge waren in einer Mischung aus Verachtung und Langeweile erstarrt. Er trat ins Zimmer, und seine Augen verengten sich, als er Schwester Fidelmas ansichtig wurde. Ein großer, muskulöser Mann Ende zwanzig begleitete Eadred. Obwohl er keine Waffen trug, benahm er sich, als sei er der Leibwächter des Prinzen.
»Bist du Eadred?«, fragte Fidelma den jungen Mann.
Der sah sie nur finster an.
»Ich beantworte keine von einer Frau gestellte Frage.« Seine Stimme war so schroff und sein Akzent so kehlig, dass sein gestelztes Irisch sehr barsch klang.
Schwester Fidelma seufzte. Sie hatte schon gehört, dass die Angelsachsen überaus arrogant sein konnten und ihre Frauen eher wie Besitztümer als wie Menschen behandelten.
»Ich untersuche den Tod von Wulfstan, einem deiner Landsleute. Also muss ich darauf bestehen, dass meine Fragen beantwortet werden«, erwiderte sie mit fester Stimme.
Eadred ignorierte sie einfach.
»Lady.« Nun sprach der muskulöse Angelsachse. Sein Irisch war wesentlich besser als das seines Prinzen. »Ich bin Raedwald, Than von Staeningum, Vetter des Thans von Andredswald. Prinzen unseres Volkes reden nur mit Frauen, die von königlichem Geblüt und ihnen also gleichrangig sind.«
»Ich danke dir für deine Höflichkeit und die Erklärung eurer Sitten, Raedwald. Eadred, deinem Vetter, scheint es dagegen am Wissen über die Gesetze und Gebräuche des Landes zu mangeln, in dem er zur Zeit zu Gast ist.«
Sie übersah das zornige Stirnrunzeln Eadreds, griff nach der kleinen Silberglocke auf dem Tisch und läutete. Abt Laisran tauchte aus dem Nebenzimmer auf.
»Wie du mir angedeutet hast, Bruder Abt, scheinen die Angelsachsen tatsächlich zu glauben, dass sie über die Gesetze dieses Landes erhaben sind. Vielleicht werden sie aus deinem Munde eine Erklärung akzeptieren.«
Laisran nickte und wandte sich an die beiden jungen Männer. Er erklärte ihnen unumwunden, welchen Rang Fidelma in der Rechtsprechung innehatte, und betonte, dass selbst der Hochkönig von ihrer Weisheit und Gelehrsamkeit Notiz nehmen musste. Eadred blickte noch immer finster drein, neigte aber mit einer steifen Bewegung das Haupt, als Laisran ihm mitteilte, auch er sei nach den Gesetzen des Landes dazu verpflichtet, Fidelmas Fragen zu beantworten. Raedwald schien das als selbstverständlich hinzunehmen.
»Da dein Landsmann dich als eine Person von königlichem Rang einschätzt, werde ich mich herablassen, deine Fragen zu beantworten«, verkündete Eadred, trat vor und setzte sich hin, ohne auf Fidelmas Erlaubnis zu warten. Raedwald blieb stehen.
Fidelma wechselte einen Blick mit Laisran, der mit den Achseln zuckte. »Die Sitten der Angelsachsen sind nicht unsere Sitten, Schwester Fidelma«, erklärte er entschuldigend. »Ich bitte dich, ihre Neigung zu ungehobeltem Benehmen zu übersehen.«
Eadreds Gesicht überzog sich mit Zornesröte.
»Ich bin ein Prinz aus dem königlichen Geblüt der südlichen Angelsachsen, stamme in direkter Blutsverwandtschaft über meinen Vorfahren Aelle vom großen Gott Wodan ab!«
Raedwald, der still und mit verschränkten Armen hinter ihm stand, schaute unglücklich drein, wollte etwas sagen, schwieg dann aber.
Abt Laisran bekreuzigte sich entsetzt. Schwester Fidelma starrte den jungen Mann nur belustigt an.
»Also bist du noch kein wirklicher Christ, der nur an den einen wahren Gott glaubt?«
Eadred biss sich auf die Unterlippe.
»Alle Königshäuser der Angelsachsen führen ihre Abstammung auf Wodan zurück, ganz gleich, ob sie ihn als Gott, Mann oder Kriegsheld verehrten«, rechtfertigte er sich.
»Dann erzähle mir etwas über dich. Ich habe gehört, dass du ein Vetter von Wulfstan bist? Wenn du es schwierig findest, dich in unserer Sprache auszudrücken, kannst du gern Latein oder Griechisch sprechen. Ich bin in beiden Sprachen bestens bewandert.«
»Ich aber nicht«, bellte Eadred. »Ich spreche wegen meiner Studien hier eure Sprache, aber ich beherrsche keine andere fließend, wenn ich auch ein wenig Latein kann.«
Schwester Fidelma verbarg ihre Überraschung und forderte ihn mit einer Geste auf, fortzufahren. Die meisten irischen Prinzen und Stammesfürsten, die sie kannte, sprachen außer ihrer eigenen noch mehrere Sprachen fließend, vor allem Latein und Griechisch.
»Nun gut. Wulfstan war dein Vetter, nicht wahr?«
»Wulfstans Vater, Cissa, der König der südlichen Angelsachsen, war der Bruder meines Vaters Cymen. Ich bin Than von Andredswald, wie mein Vater vor mir.«
»Erzähle mir, wie Wulfstan und du hierher nach Durrow gekommen seid.«
Eadred schnaubte verächtlich.
»Vor einigen Jahren kam einer aus eurem Volk, ein Mann namens Diciul, in unser Land und begann von seinem Gott zu predigen, einem Gott ohne Namen, der einen Sohn namens Christus hatte. Cissa, der König, bekehrte sich zu diesem neuen Gott und wandte sich von Wodan ab.
Dem Mann aus Éireann wurde gestattet, in unserem Land eine Ordensgemeinschaft und ein Kloster in Bosas Ham zu gründen. Viele gingen dorthin und lauschten seinen Lehren. Cissa beschloss, dass Wulfstan, der Thronerbe des Königreiches, zur weiteren Erziehung nach Éireann reisen sollte.«
Schwester Fidelma nickte und überlegte, ob es wohl an seiner mangelhaften Beherrschung des Irischen lag, dass es sich so anhörte, als missbillige der junge Mann Cissas Bekehrung zum Christentum.
»Dann ist Wulfstan der tánist in eurem Land?«
Abt Laisran mischte sich lächelnd ein.
»Die Angelsachsen haben ein anderes Rechtssystem als wir, Schwester Fidelma«, unterbrach er sie. »Bei ihnen erbt der älteste Sohn alles. Es gibt keine Wahl des Nachfolgers durch die derbhfine wie bei uns.«
»Ich verstehe.« Fidelma nickte. »Fahre fort, Eadred. Cissa beschloss also, Wulfstan hierherzuschicken.«
Der junge Mann verzog säuerlich das Gesicht.
»Mir wurde befohlen, ihn zu begleiten und mit ihm zu studieren. Wir kamen zusammen mit unserem Vetter Raedwald, dem Than von Staeningum, und zehn Freien und fünf Sklaven, die für unser Wohl sorgen sollen. Nun sind wir bereits seit sechs Monden hier.«
»Und nicht gerade unsere hellsten Studenten«, murmelte Laisran.
»Das mag ja sein«, bellte Eadred. »Wir haben nicht darum gebeten, herkommen zu dürfen, sondern wurden von Cissa herbeordert. Es freut mich, dass wir nun endlich aufbrechen und den Leichnam meines Verwandten in unser Land mit zurücknehmen dürfen.«
»Sagt dir die lateinische Inschrift cave quid dicis etwas?«
Eadred rümpfte die Nase.
»Es ist das Motto des jungen fränkischen Prinzen Dagobert.«
Schwester Fidelma schaute den Burschen nachdenklich an, ehe sie sich wieder Raedwald zuwandte. Dessen Gesicht war gerötet, und er schaute verwirrt drein.