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»Und du, Raedwald? Weißt du, was das heißt?«

»Leider kann ich kein Latein, Lady«, murmelte er.

»Ach so? Wann hast du Wulfstan zum letzten Mal gesehen?«

»Nach der Vesper.«

»Was ist da genau geschehen?«

»Wie üblich haben Eadred und ich Wulfstan zur Nachtruhe zu seiner Kammer begleitet, zusammen mit zwei von unseren Freien und zwei Sklaven. Wir haben wie immer das Zimmer durchsucht, und dann ist Wulfstan hineingegangen und hat uns fortgeschickt.«

Eadred nickte zustimmend und fuhr fort: »Ich habe mich danach auf dem Gang noch ein Weile mit Raedwald unterhalten. Wir haben beide gehört, wie Wulfstan die Holzbalken vorschob. Dann bin ich auf mein Zimmer gegangen.«

Wieder schaute Schwester Fidelma zu Raedwald hin.

»Du kannst das bestätigen, Raedwald?«

Erneut lief Eadreds krebsrot an.

»Du zweifelst an meinem Wort?« Seine Stimme klang schrill.

»Diese Untersuchung wird nach unseren Gesetzen durchgeführt, Eadred«, entgegnete ihm Fidelma verärgert.

Raedwald sah verlegen aus.

»Ich kann bestätigen, was Eadred gesagt hat, Lady«, antwortete er. »Der Than von Andredswald spricht die Wahrheit. Sobald wir gehört hatten, wie die Balken vorgelegt wurden, wussten wir, dass Prinz Wulfstan sein Zimmer für die Nacht verriegelt hatte. Also zogen wir uns beide in unsere Kammern zurück.«

Schwester Fidelma nickte nachdenklich.

»Du kannst auch bestätigen, Eadred, dass Wulfstan Angst hatte, man würde ihn angreifen? Warum war das so?«

Eadred schniefte.

»Es sind zu viele welisc hier, und einer von ihnen hat ihm verschiedentlich gedroht … dieser Barbar Talorgen!«

»Welisc? Wer sind die?«, fragte Schwester Fidelma.

Laisran lächelte müde.

»Die Angelsachsen nennen alle Britannier welisc. Das heißt so viel wie Fremde.«

»Ich verstehe. Also war Wulfstan sicher in seinem Zimmer verbarrikadiert, als ihr fortgingt? Ihr scheint ja nicht so viel Angst vor den Britanniern zu haben wie euer Vetter. Woran liegt das?«

Eadred lachte höhnisch.

»Ich wäre ja wohl nicht Than von Andredswald, wenn ich mich eines Rudels feiger welisc nicht zu erwehren wüsste. Nein, ich fürchte mich weder vor den Sprösslingen der Barbaren noch vor ihren Vätern.«

»Und der Rest deines angelsächsischen Gefolges? Fürchteten die die Britannier?«

»Es tut nichts zu Sache, ob die anderen sie fürchteten. Sie stehen unter meinem Befehl und tun, was ich sage.«

Schwester Fidelma seufzte. Es war wohl nicht so einfach, in einem angelsächsischen Land zu leben, wenn man kein König oder Than war, überlegte sie.

»Wann hast du bemerkt, dass Wulfstan fehlte?«, erkundigte sie sich.

»Bei den Gebeten nach der ersten Glocke …«

»Er meint das Angelus«, erklärte Laisran.

»Er ist nicht zum Gebet erschienen. Ich dachte, er hätte vielleicht verschlafen, und habe mich also in meinen Unterricht begeben.«

»Was für ein Unterricht war das?«

»Die Klasse des Frettchengesichts Finan über die Gesetze, die den Umgang zwischen Königreichen regeln.«

»Sprich weiter.«

»In der Morgenpause habe ich bemerkt, dass Wulfstan immer noch nicht aufgetaucht war, und bin zu seiner Kammer gegangen. Die Tür war verschlossen, was bedeutete, dass er noch drin sein musste. Ich hämmerte an die Tür. Keine Antwort. Dann habe ich Bruder Ultan geholt, den Hausbesorger …«

»Den Verwalter unserer Ordensgemeinschaft«, verbesserte ihn Laisran ruhig.

»Wir haben Raedwald geholt und sind zusammen zu Wulfstans Zimmer gegangen. Doch Ultan musste noch zwei Brüder herbeizitieren, die uns halfen, die Tür aufzubrechen. Wulfstan war ermordet worden. Nach dem Täter muss man ja wohl nicht lange suchen.«

»Wer könnte das sein?«, erkundigte sich Schwester Fidelma.

»Nun, das ist doch wohl klar! Der welisc Talorgen, der sich Prinz von Rheged schimpft. Er hat Wulfstan schon oft bedroht. Und es ist ja allgemein bekannt, dass die welisc auch zaubern können.«

»Was meinst du damit?«, fragte Fidelma mit scharfer Stimme.

»Nun, man hat Wulfstan in seiner Kammer ermordet, obwohl das Fenster vergittert und die Tür verschlossen und von innen verriegelt war. Wer außer einem welisc wäre in der Lage, seine Gestalt zu ändern und eine solche Untat zu begehen?«

Schwester Fidelma konnte ihr spöttisches Lächeln gerade noch verbergen.

»Eadred, ich denke, du hast noch viel zu lernen, denn du scheinst noch im Aberglauben deiner alten Religion befangen zu sein.«

Eadred sprang auf und fuhr mit der Hand dorthin, wo wohl sonst ein Messer am Gürtel hing.

»Ich bin der Than von Andredswald! Ich habe es zugelassen, dass ich von einer Frau befragt werde, weil es in eurem Land so Brauch ist. Aber ich lasse mich von keiner Frau beleidigen!«

»Es tut mir leid, wenn du glaubst, dass ich dich beleidigt habe«, erwiderte Schwester Fidelma mit einem gefährlichen Funkeln in den Augen. »Du kannst jetzt gehen.«

In Eadreds Gesicht zuckte es wütend; Laisran erhob sich und öffnete ihm die Tür.

Der junge angelsächsische Prinz drehte sich auf dem Absatz um und stürmte aus dem Raum. Raedwald zögerte einen Augenblick, machte eine beinahe entschuldigende Geste und folgte ihm.

»Habe ich dir nicht gesagt, dass diese Angelsachsen seltsame, hochmütige Leute sind, Fidelma?« Laisran lächelte beinahe traurig.

Schwester Fidelma schüttelte den Kopf.

»Es gibt bei ihnen wahrscheinlich Gute und Schlechte wie in allen Völkern. Raedwald scheint mehr von der Höflichkeit eines Prinzen zu besitzen als sein Vetter Eadred.«

»Nun, nach Eadred und seinem Gefolge zu urteilen, haben wir wohl die Schlechten erwischt. Was Raedwald betrifft, so ist er zwar ein Than und älter als Wulfstan und Eadred, aber sehr ruhig und lässt sich einfach von den beiden herumkommandieren. Er ist eher ein Diener als ein Herr. Ich habe mir sagen lassen, das liegt daran, dass seine Vettern beide in einem engeren Verwandtschaftsverhältnis zum König stehen als er.« Laisran hielt inne und warf ihr einen neugierigen Blick zu. »Warum hast du sie nach dem lateinischen Motto gefragt – cave quid dicis

»Diesen Satz fand ich auf ein Stück Leinen gestickt, mit dem das Messer abgewischt wurde, dem Wulfstan zum Opfer fiel. Vielleicht hat der Mörder das Tuch verloren, vielleicht hat es Wulfstan gehört?«

Laisran schüttelte den Kopf und sagte: »Nein, Eadred hatte recht. Das Motto kann nämlich auch bedeuten: ›Hüte deine Zunge‹. Es ist das Motto des fränkischen Prinzen Dagobert. Ich habe den jungen Mann erst kürzlich darauf hingewiesen, wie drohend sein Wahlspruch klingt.«

Schwester Fidelma rekelte sich und blickte ihn nachdenklich an. »Das ist schlecht für Dagobert, den Franken. Jetzt wird er des Mordes verdächtigt.«

»Nicht unbedingt. Jeder hätte das Tuch nehmen und dort fallen lassen können, und es gibt wahrhaftig viele, die die arroganten Angelsachsen hassen. Ich habe sogar gehört, wie es Finan einmal herausrutschte, er würde sie am liebsten alle miteinander ersäufen!«

Fidelma zog fragend die Augenbrauen hoch.

»Willst du damit sagen, dass wir Professor Finan auch zu den Verdächtigen zählen müssen?«

Plötzlich lachte Abt Laisran wieder.

»Oh, allein der Gedanke, dass Finan seine Gestalt ändert, um in einen verschlossenen Raum zu gelangen, dort einen Mord begeht und wieder herauskommt, ohne die Riegel zu entfernen, ist wirklich amüsant, aber kaum einer ernsthaften Erwägung wert.«

Schwester Fidelma schaute Laisran immer noch nachdenklich an.

»Du glaubst also, dass der Mörder tatsächlich zaubern kann?«