»Vielleicht nicht. Man sagt mir, dass du Streit mit ihm hattest?«
Dagobert nickte.
»Worüber?«
»Er war ein arrogantes Schwein. Er hat meine Ahnen beleidigt. Also habe ich ihm eins auf die Nase gegeben.«
»War das nicht schwierig? Er hatte doch eine Leibwache. Man hat mir auch erzählt, dass Raedwald nie weit entfernt war, und der ist ein kräftiger Kerl.«
Dagobert lachte glucksend.
»Raedwald wusste, wann er seinen Prinzen verteidigen musste und wann nicht. Er war, diplomatisch geschickt, aus dem Zimmer gegangen, als die Streiterei anfing. Es fehlt ihm nicht an Humor, diesem Raedwald von den südlichen Angelsachsen. Wulfstan hat ihn behandelt wie den Dreck unter seinen Füßen, obwohl er auch ein Than ist und ein Blutsverwandter.«
Schwester Fidelma griff in die Tasche, zog das blutbefleckte, bestickte Leinentuch heraus und legte es auf den Tisch.
»Erkennst du das?«
Dagobert hob das Tuch auf und drehte es mit verwundertem Gesicht in den Händen.
»Es ist ganz gewiss meines. Hier ist mein Wahlspruch. Aber die Blutflecken?«
»Es lag neben Wulfstans Leiche. Ich habe es dort gefunden. Man hat es offensichtlich dazu benutzt, die Mordwaffe abzuwischen.«
Dagobert erbleichte.
»Ich habe Wulfstan nicht umgebracht. Er war ein Schwein, aber er hatte nur eine gehörige Tracht Prügel nötig, damit er einmal bessere Manieren lernte.«
»Wie kommt dann dieses Tuch in seine Schlafkammer?«
»Ich … ich habe es jemandem geliehen.«
»Wem?«
Dagobert kaute auf der Unterlippe und zuckte die Achseln.
»Wenn du nicht dieses Verbrechens beschuldigt werden willst, Dagobert, musst du es mir sagen«, beharrte Fidelma.
»Vor zwei Tagen habe ich Talorgen, dem Prinzen von Rheged, das Taschentuch geliehen.«
Finan verneigte sich vor Schwester Fidelma.
»Dein Ruf als Anwältin am Gerichtshof der Brehons eilt dir voraus, Schwester«, grüßte sie der dunkle, hagere Mann. »Es erreichten uns bereits Gerüchte aus Tara, dass du einmal ein Komplott aufgedeckt hast, mit dem man den Hochkönig stürzen wollte.«
Fidelma bat Finan mit einer Handbewegung, sich zu setzen.
»Manchmal übertreiben die Leute ein bisschen, weil sie sich gern Helden und Heldinnen aufbauen, die sie verehren können. Du bist hier Professor der Jurisprudenz?«
»Das stimmt. Ich habe eine Ausbildung von sechs Jahren bis zum sai durchlaufen und bin nun Professor.«
Den Abschluss sai erreichte man nach sechs Jahren Studien. Er lag eine Stufe unter dem des anruth, den Fidelma erworben hatte.
»Und du hast Wulfstan unterrichtet?«
»Wir haben alle unser Kreuz zu tragen, genau wie Christus. Mein Kreuz war es, dass ich die angelsächsischen Thans unterrichten musste.«
»Doch nicht alle Angelsachsen?«
Finan schüttelte den Kopf.
»Nein, nur die drei Thans, denn sie weigerten sich, im Unterricht mit Bauern zusammenzusitzen. Nur auf ausdrücklichen Befehl von Abt Laisran kamen sie mit den anderen Studenten in den Hörsaal. Sie waren nicht gerade demütig vor dem Altar Christi. Im Gegenteil, ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass sie heimlich über Christus spotteten und weiterhin ihren befremdlichen Gott Wodan verehrten.«
»Du magst die Angelsachsen nicht?«
»Ich hasse sie!«
Die Entschiedenheit in Finans Stimme ließ Fidelma aufhorchen.
»Ist Hass nicht ein Gefühl, das einem Klosterbruder fremd sein sollte, besonders einem, der den Titel sai trägt?«
»Meine Schwester und mein Bruder nahmen das Ordensgewand und entschlossen sich, einem Ruf zu folgen, das Wort Christi im Land der östlichen Angelsachsen zu predigen. Vor einigen Jahren begegnete ich einem der Missionare, der mit dieser Gruppe aufgebrochen war. Sie hatten das Land erreicht und versuchten, dort das Wort des Herrn zu predigen. Die heidnischen Angelsachsen hatten sie jedoch gesteinigt, und nur zwei aus der Gruppe entgingen dem Tode. Unter denjenigen, die das Märtyrerschicksal erlitten, waren meine Schwester und mein Bruder. Seither hasse ich alle Angelsachsen.«
Schwester Fidelma schaute in Finans dunkle Augen.
»Hast du Wulfstan umgebracht?«
Finan erwiderte ihren Blick unerschüttert.
»Ich hätte es zu einer anderen Zeit, an einem anderen Ort tun können. Genügend Hass habe ich in mir. Aber nein, Schwester Fidelma, ich habe ihn nicht getötet. Weder besitze ich die Fähigkeit, in einen verriegelten Raum einzudringen, noch ihn wieder zu verlassen, als sei niemand darin gewesen.«
Fidelma nickte bedächtig.
»Du kannst gehen, Finan.«
Der Rechtsprofessor erhob sich zögerlich. Er hielt inne und bemerkte nachdenklich: »Niemand hier im Kloster mochte Wulfstan und Eadred. Viele heißblütige junge Männer haben sie zum Zweikampf herausgefordert, seit sie hier aufgetaucht sind. Dagobert, der Franke, zum Beispiel. Allein die Tatsache, dass derlei Herausforderungen auf heiligem Grund verboten sind, hat bisher ein Blutvergießen verhindert.«
Fidelma nickte noch einmal.
»Stimmt es, dass die Angelsachsen morgen abreisen?«, fragte Finan.
Sie hob den Kopf und schaute ihn an.
»Sie kehren mit dem Leichnam Wulfstans in ihr Land zurück«, bestätigte sie ihm.
Ein zufriedenes Lächeln erschien auf Finans Gesicht.
»Ich kann nicht behaupten, darüber betrübt zu sein, selbst wenn einer von ihnen sein Leben lassen musste, bis es so weit kam. Ich hatte gehofft, sie hätten Durrow bereits gestern verlassen.«
»Warum hätten sie fortgehen sollen?«, fragte Fidelma.
»Gestern Nachmittag ist irgendein angelsächsischer Bote hier im Kloster eingetroffen und suchte Wulfstan und Eadred. Ich hatte schon gehofft, dass man sie in ihr Heimatland zurückbeorderte. Wie auch immer, Gott sei gepriesen, dass sie nun verschwinden.«
Fidelma erwiderte ärgerlich: »Darf ich dich an eines erinnern, Finan: Wenn wir den Täter nicht finden, ist nicht nur diese Stätte der Gelehrsamkeit, dann sind alle fünf Königreiche von Éireann in Gefahr, denn die Angelsachsen werden sicherlich Vergeltung für den Tod ihres Prinzen üben wollen.«
Talorgen von Rheged war ein junger Mann von mittlerer Statur mit einem frischen Gesicht und sandbraunem Haar. Er trug einen dünnen Schnurrbart, aber seine Wangen und sein Kinn waren glattrasiert.
»Ja. Es ist kein Geheimnis, dass ich Wulfstan und Eadred zum Zweikampf herausgefordert habe.« Er sprach Irisch zwar mit Akzent, aber fließend, und er schien gefasst, als er sich auf den Stuhl setzte, auf den Schwester Fidelma gedeutet hatte.
»Warum?«
Talorgen grinste spitzbübisch.
»Ich habe mir sagen lassen, dass du Eadred bereits befragt hast. Von seinem Benehmen kannst du auf Wulfstans Arroganz schließen. Es ist nicht schwer, sich von denen provozieren zu lassen, selbst wenn sie keine Angelsachsen wären.«
»Du liebst die Angelsachsen nicht?«
»Sie sind nicht liebenswert.«
»Du bist ein Prinz von Rheged, und es wird berichtet, dass die Angelsachsen dein Land immer wieder angreifen.«
Talorgen nickte mit verkniffenem Mund. »Oswy nennt sich zwar christlicher König von Northumbria, doch trotzdem schickt er seine barbarischen Horden gegen die Königreiche der Britannier aus. Seit Generationen kämpfen nun die Bewohner meines Landes gegen die Angelsachsen, denn deren Hunger nach Land und Macht ist unersättlich. Owain, mein Vater, hat mich hierhergeschickt, aber ich wäre jetzt, so wahr Christus auferstanden ist, lieber an seiner Seite und schwänge mein Schwert gegen die angelsächsischen Feinde. Meine Klinge sollte das Blut der Feinde meines Stammes trinken.«
Schwester Fidelma betrachtete neugierig den jungen Mann, der mit hochrotem Kopf vor ihr saß.
»Hat deine Klinge denn schon das Blut der Feinde deines Stammes getrunken?«