Eadred starrte sie an, und Verwirrung umschattete seine Augen.
»O ja«, meinte Fidelma lächelnd. »Zumindest einer von euch weiß, wie Wulfstan gestorben ist und wer dafür verantwortlich ist.«
Sie legte eine kleine Pause ein und ließ die Worte ihre Wirkung tun.
»Lasst mich zunächst erklären, wie er gestorben ist.«
»Er wurde in seinem Bett erstochen«, sagte Finan, der Rechtsprofessor.
»Das ist richtig«, stimmte ihm Fidelma zu, »aber es geschah ohne die Hilfe von Zauberei.«
»Wie sonst konnte ein Mörder in einen verriegelten Raum gelangen und ihn wieder verlassen, obwohl er noch immer von innen verriegelt war?«, wollte Eadred wissen. »Wie, außer durch Zauberei?«
»Der Mörder wollte, dass wir es für Zauberei hielten. Er hat sich einen sehr komplizierten Plan ausgedacht, um uns zu verwirren und die Schuld jemand anderem zuzuschieben. Der Plan war so komplex, dass er verschiedene Ebenen hatte. Eine der Ebenen war schlicht und einfach, dass er uns verwirren und verängstigen wollte, weil wir dachten, der Mord sei von einer übernatürlichen Kraft begangen worden. Die andere war, einen Hinweis auf einen offensichtlichen Verdächtigen zu hinterlassen, und die dritte war, eine andere Person zu bezichtigen.«
»Nun«, meinte Laisran, »im Augenblick durchschaue ich nicht einmal die erste Absicht.«
Schwester Fidelma warf dem rundlichen Abt ein flüchtiges Lächeln zu.
»Die hebe ich mir für später auf. Wir wollen zunächst die Todesart betrachten.«
Nun hatte sie die ungeteilte Aufmerksamkeit aller.
»Der Mörder betrat den Raum durch die Tür. Wulfstan hat seinen Mörder selbst in die Schlafkammer eingelassen.«
Der ungewöhnlich schweigsame Dagobert holte laut und vernehmlich Luft.
Ungerührt sprach Fidelma weiter.
»Wulfstan kannte seinen Mörder. Ja, er hegte keinerlei Verdacht, fürchtete diesen Mann nicht.«
Abt Laisran betrachtete sie mit vor Erstaunen offenem Mund.
»Wulfstan ließ den Mörder in die Kammer«, fuhr sie fort. »Der Mörder schlug zu. Er tötete Wulfstan und ließ den Leichnam auf dem Bett zurück. Es ging alles blitzschnell. Um Zweifel und Verdacht zu verbreiten, wischte der Übeltäter sein Messer an einem Leinentuch ab, von dem er irrtümlich annahm, dass es Talorgen, dem Prinzen von Rheged, gehörte. Wie ich schon sagte, falls es uns gelingen würde, die Scharade der Zauberei zu durchblicken, wollte der Täter den Mord Talorgen anlasten. Er bemerkte nur nicht, dass auf diesem Tuch deutlich sichtbar Dagoberts Wahlspruch zu lesen stand. Es war ein lateinischer Spruch: ›Hüte deine Zunge!‹«
Sie legte eine Pause ein, in der die Zuhörer diese Neuigkeit verdauen konnten.
»Wie hat nun aber der Täter die Bettkammer wieder verlassen und es geschafft, die Tür von innen zu verriegeln?«, fragte Dagobert.
»Die Tür wird mit Hilfe von zwei Holzbalken verriegelt. Normalerweise werden die in eiserne Halterungen eingehängt, die am Türrahmen befestigt sind. Als ich mir den ersten Balken ansah, bemerkte ich, dass an beiden Enden Seil darum gewickelt war, um das Holz zu schützen, wenn es in die Halterungen geschoben wird. Das Seltsame war, dass am anderen Balken an beiden Seiten vier Fuß Seil lose hingen. An den Enden war das Seil ausgefranst und verkohlt.«
Sie wiederholte diesen Satz noch einmal.
»Seltsam. Dann fiel mir auf, dass über der Tür eine Stange befestigt ist, an der gegen die Zugluft ein schwerer Wollvorhang hängt. Ich konnte natürlich nicht feststellen, ob der Vorhang zur Tatzeit zugezogen war oder nicht. Denn sobald wir gewaltsam in den Raum eingedrungen waren, hatte die Bewegung der Tür nach innen den Vorhang möglicherweise zur Seite geschoben.«
Eadred machte eine ungeduldige Handbewegung.
»Wohin soll diese Erklärung führen?«
»Geduld, ich sage es euch gleich. Des Weiteren entdeckte ich zu beiden Seiten der Tür je einen kleinen Talgfleck. Als ich mich hinunterbückte, um diese Flecken genauer zu betrachten, sah ich zwei Nägel, die etwa drei Zoll über dem Boden in den Türrahmen geschlagen waren. Zwei kurze Enden Seil hingen noch an diesen Nägeln, und auch hier waren die Enden ausgefranst und verkohlt. Da begriff ich, wie der Mörder aus dem Zimmer geflohen war und trotzdem einen der Balken in die Verriegelung gebracht hatte.«
»Einen?«, fragte Abt Laisran. Er hatte sich weit vorgelehnt und schaute sie mit gespannter Miene an.
Fidelma nickte.
»Es war nur ein Balken nötig, um die Tür von innen zu verriegeln. Der erste Balken, drei Fuß von der Unterkante der Tür entfernt, war nicht eingelegt worden. Es waren keinerlei Kerben auf ihm zu sehen, und das Seil an den Enden war unversehrt. Auch waren die zugehörigen Halterungen nicht aus dem Türrahmen gerissen. Daraus musste ich schließen, dass dieser Balken nicht in den Halterungen gesteckt hatte. Nur der zweite Balken, der oben an der Tür, hatte in der Halterung gesteckt.«
»Weiter«, drängte Laisran sie, als sie wieder eine Pause einlegte.
»Der Mörder hatte alles gut vorbereitet. Nachdem er Wulfstan getötet hatte, wickelte er das Seil ein Stück von den Enden des Balkens ab und führte es über die Vorhangstange über der Tür. Dann schlug er zwei Nägel ein – oder er hatte sie schon am Tag, als die Kammer offen war, eingeschlagen. Nun zog er den Holzbalken bis zur Vorhangstange hoch. Er sicherte ihn, indem er die Enden des Seils an den unten eingeschlagenen Nägeln festband. Diese Konstruktion erlaubte es ihm, die Kammer zu verlassen.«
Laisran wedelte ungeduldig mit der Hand.
»Ja, aber wie konnte er dann das Seil so führen, dass der Balken in die Halterung herabgelassen wurde?«
»Ganz einfach. Er nahm zwei Talgkerzen und stellte je eine beim Hinausgehen unter ein Stück Seil. Dann nahm er ein Stück Papier und brachte es mit Hilfe seiner Zunderbüchse zum Brennen – die Asche des Papiers habe ich auf dem Boden der Kammer gefunden, wo er sie hatte fallen lassen. Mit dem Papier zündete er die beiden Kerzen rechts und links der Tür unter der Schnur an. Nun ging er rasch. Sobald die Schnur durchgeschmort war, gab sie den Balken frei, der ordentlich in die nach oben offene eiserne Halterung fiel. Er musste ja, wie ihr euch erinnert, nur zwei Fuß tief fallen. Die Kerzen brannten weiter herunter, bis sie nur noch Fettflecken waren, beinahe nicht zu sehen, wenn ich nicht auf einem ausgeglitten wäre. Doch das Ergebnis war, dass wir vor einem Rätsel standen. Ein von innen verriegelter Raum mit einer Leiche. Zauberei? Nein. Die Planung eines listigen Hirns.«
»Was geschah dann?«, erkundigte sich Talorgen und unterbrach so das atemlose Schweigen.
»Der Mörder verließ die Kammer, wie ich beschrieben habe. Er wollte die Illusion eines geheimnisvollen Geschehens erwecken, denn die Person, der er das Verbrechen anlasten wollte, war jemand, von dem er annahm, seine Landsleute würden ihn für einen Barbaren und Zauberer halten. Wie ich schon angedeutet habe, wollte er den Verdacht auf dich lenken, Talorgen. Er verließ die Kammer und redete draußen vor Wulfstans Zimmer noch eine Weile mit jemandem. Dann hörte er, wie der Balken in die Halterung fiel. Das war auch sein Alibi, denn es war ja klar, dass die beiden vernommen hatten, wie Wulfstan, der noch lebte, den Balken vorlegte, um die Tür zu verriegeln.«
Raedwald legte die Stirn in Falten, als machte es ihm Mühe, ihren Argumenten zu folgen.
»Du hast die Tat hervorragend rekonstruiert«, sagte er langsam. »Aber es beruht alles nur auf Annahmen. Und es bleibt nur eine Annahme, bis du den Mörder nennst und uns sein Motiv verrätst.«
Schwester Fidelma lächelte milde.
»Nun gut. Dazu wollte ich gerade kommen.«
Sie drehte sich um und ließ ihre Augen über die fragend zu ihr aufgerichteten Gesichter schweifen. Dann blieb ihr Blick an den hochmütigen Zügen des Than von Andredswald hängen.
Eadred deutete das als Anschuldigung und war mit wutverzerrtem Gesicht aufgesprungen, ehe sie noch ein Wort gesagt hatte.