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Rasch kam Ultan, der Verwalter, quer durch den Raum geschritten und baute sich schützend vor Schwester Fidelma auf, für den Fall, dass Eadred sich von den Gefühlen, die sich deutlich auf seinem Gesicht abzeichneten, hinreißen lassen sollte.

»Du hast uns noch nichts zum Motiv gesagt«, meinte Dagobert, der Franke, ruhig. »Warum sollte der Than von Andredswald seinen Vetter und Prinzen ermorden?«

Schwester Fidelmas Blick war immer noch auf den arroganten Angelsachsen gerichtet.

»Ich habe doch gar nicht gesagt, dass der Than von Andredswald der Mörder ist«, stellte sie leise fest. »Was das Motiv angeht, so liegt es in den Gesetzen der angelsächsischen Gesellschaft begründet, die, Gott sei’s gedankt, nicht die unseren sind.«

Abt Laisran sah sie fragend an.

»Erkläre dich näher, Fidelma. Das verstehe ich nicht.«

»Ein angelsächsischer Prinz erbt die Königswürde durch das Recht des Primogenitur. Das heißt, der älteste Sohn erbt alles.«

Dagobert nickte ungeduldig.

»Das ist auch in unserer fränkischen Thronfolge so. Aber wieso könnte das ein Motiv für den Mord an Wulfstan sein?«

»Vor zwei Tagen traf hier ein Bote aus dem Königreich der südlichen Angelsachsen ein. Seine Botschaft war für Wulfstan bestimmt. Ich habe herausgefunden, wie diese Botschaft lautete.«

»Wie hast du das angestellt?«, wollte Raedwald wissen. »Königlichen Boten wird die Zunge herausgeschnitten, damit sie derlei Geheimnisse nicht verraten können.«

Fidelma grinste.

»Das hast du mir schon gesagt. Zum Glück hat der arme Mann schreiben gelernt, und zwar von Diciul, dem Missionar aus Éireann, der das Christentum und die Gelehrsamkeit in euer Land gebracht hatte.«

»Und wie lautete die Botschaft?«, fragte Laisran.

»Wulfstans Vater ist gestorben, der Gelben Pest zum Opfer gefallen. Wulfstan war nun König der südlichen Angelsachsen und wurde dringend nach Hause gerufen.«

Sie schaute Raedwald an.

Der nickte stumm.

»So viel hast du mir bereits verraten, als ich dich verhörte, Raedwald«, fuhr Fidelma fort. »Als ich dich fragte, ob du Wulfstan liebtest, sagtest du mir, es stehe dir nicht an, deinen neuen König zu mögen oder nicht zu mögen. Ein Versprecher, aber er machte mich auf ein mögliches Motiv aufmerksam.«

Raedwald schwieg.

»In einem derart barbarischen System der Thronfolge, wo die Reihenfolge der Geburt das einzige Kriterium für den Anspruch auf ein Erbe oder ein Königreich ist, gibt es keinen Schutz. In Éireann wie bei unseren Vettern, den Britanniern, muss ein Stammesfürst oder König nicht nur königlichen Geblüts sein, er muss auch von der derbhfine seiner Familie erwählt werden. Ohne einen solchen Schutz ist völlig klar, dass nur der Tod des Vorgängers alle Hindernisse für einen Thronanwärter aus dem Weg räumt.«

Raedwald spitzte die Lippen und sagte leise: »Das stimmt.«

»Und nun, da Wulfstan tot ist, wird Eadred ihm auf dem Thron nachfolgen?«

»Ja.«

Eadreds Gesicht war puterrot.

»Ich habe Wulfstan nicht umgebracht!«

Schwester Fidelma sah ihm tief in die Augen.

»Ich glaube dir, denn der Mörder ist Raedwald«, sagte sie ruhig.

Von Panik ergriffen, wollte Raedwald flüchten, doch Finan packte ihn fest am Arm. Dagobert und Ultan, der Verwalter, sprangen vor und halfen ihm, Raedwald festzuhalten, der sich heftig wehrte. Sobald man den Than von Staeningum überwältigt hatte, sprach Schwester Fidelma weiter: »Ich habe gesagt, dass der Mörder klug und listenreich ist. Und doch hat sich Raedwald bei seinem Versuch, uns auf die falsche Fährte zu leiten, übernommen und so den Verdacht auf sich gelenkt. Er wollte, dass wir Talorgen das Verbrechen zur Last legten, doch es unterlief ihm ein Fehler, weil er dachte, das Taschentuch gehöre Talorgen. Es trug aber Dagoberts lateinischen Wahlspruch. Raedwald kann kein Latein, deshalb bemerkte er das nicht. Aus diesem Grund ist Eadred nun von jedem Verdacht frei, denn er versteht zumindest so viel Latein, dass er Dagoberts Wahlspruch erkennen konnte.«

Sie sah Eadred an.

»Wenn du auch ermordet worden wärst, dann wäre Raedwald der nächste Thronanwärter gewesen, nicht wahr?«

Eadred nickte.

»Aber …«

»Raedwald hatte vor, dich als Täter zu bezichtigen und dann zu zeigen, dass du Talorgen die Schuld zuschieben wolltest. Entweder wärst du nach unserem Gesetz wegen Mord vor Gericht gekommen oder, wenn das alles nichts genutzt hätte … Nun, ich wage zu bezweifeln, dass du das Land der südlichen Angelsachsen sicher wieder erreicht hättest. Vielleicht wärst du bei der Überfahrt über Bord gegangen. Wie auch immer, Wulfstan und du, ihr wärt beide aus der Thronfolge ausgeschieden, und dann wäre der Weg frei gewesen für Raedwald.«

Eadred schüttelte verwundert den Kopf. In seiner Stimme schwang zögerliche Bewunderung mit, als er sagte: »Niemals hätte ich vermutet, dass eine Frau einen solch scharfen Verstand besitzen könnte, um die List dieses Verrats so aufzudecken, wie du es gemacht hast. Ich werde nun dein Amt mit neuen Augen sehen.«

An Abt Laisran gerichtet, sagte er: »Ich und meine Männer, wir werden jetzt abreisen, denn wir müssen in mein Land zurückkehren. Mit deiner Erlaubnis, Abt, nehme ich Raedwald als meinen Gefangenen mit. Er wird nach unseren Gesetzen vor Gericht gestellt werden, und seine Strafe wird nach unserem Recht festgelegt.«

Abt Laisran nickte nur.

Eadred ging auf die Tür zu. Dabei fiel sein Blick auf Talorgen von Rheged.

»Nun, welisc, es scheint, als schuldete ich dir Abbitte dafür, dass ich dich zu Unrecht des Mordes an Wulfstan bezichtigt habe. Hiermit entschuldige ich mich.«

Talorgen erhob sich langsam und versuchte, die Überraschung auf seinem Gesicht zu verbergen.

»Deine Entschuldigung ist angenommen, Angelsachse.«

Eadred zögerte einen Augenblick und sagte: »Ungeachtet der Entschuldigung kann doch zwischen uns niemals Friede herrschen, welisc!«

Talorgen rümpfte verächtlich die Nase.

»Ein solcher Friede kommt an dem Tag, an dem du und deine angelsächsischen Horden von den Ufern Britanniens in See stechen, um für immer in das Land zurückzukehren, aus dem ihr gekommen seid!«

Eadred erstarrte, fuhr mit der Hand zum Gürtel, hielt dann inne und lächelte beinahe.

»Gut gesprochen, welisc. Es wird also niemals Frieden geben!«

Mit großen Schritten verließ er den Raum, gefolgt von Ultan und Dagobert, die Raedwald hinter ihm her abführten.

Talorgen lächelte Schwester Fidelma kurz zu und sagte: »Wahrhaftig, unter den Brehons von Irland sind weise Richterinnen.«

Dann war auch er fort. Finan, der Rechtsprofessor, zögerte einen Augenblick.

»Wahrlich, jetzt weiß ich, warum dein Ruf so großartig ist, Fidelma von Kildare.«

Schwester Fidelma seufzte leise, als er gegangen war.

»Nun, Fidelma«, sagte Abt Laisran mit zufriedenem Lächeln, während er nach dem Weinkrug griff. »Es scheint, dass ich dir auf deiner Pilgerfahrt zum Schrein des heiligen Patrick von Ard Macha einige Abwechslung geboten habe.«

Schwester Fidelma ging auf den ironischen Ton des rundlichen Abtes ein.

»Abwechslung, das schon. Aber ich wäre wahrhaftig lieber einem angenehmeren Zeitvertreib nachgegangen.«

DER FALSCHE APOSTEL

Die schwarze Lumme mit den leuchtend orangefarbenen Beinen und den klagenden Warnrufen stieß herab und schoss über das Fischerboot. Sie war ein einsamer Wanderer inmitten eines Schwarms kleiner, wendiger Sturmschwalben mit schwärzlichem Gefieder und weißem Bürzel und großer dunkel gefärbter Kormorane; sie alle kreisten, tauchten, flatterten und hoben sich gegen den sanftblauen Maihimmel ab.