»Woher weißt du so was alles?«
»Man muss nur mit offnen Augen durch die Welt gehen und auf die Alten hören, die haben Erfahrung gesammelt und kennen sich aus im Wissen unserer Vorfahren.«
Mittlerweile hatten sie die Klippe erklommen und blickten von oben auf eine Senke in der Inselmitte. Dort wuchsen ein paar verkrüppelte Bäume, und zwischen riesigen Felsbrocken hatte man etliche Steinhütten aufgeschichtet, die wie Bienenkörbe aussahen, auch ein kleines Bethaus.
»Das also ist Abt Selbachs Gemeinde«, wunderte sich Fidelma, runzelte die Stirn und schaute sich um. Nichts regte sich, von Leben keine Spur. »Hallo, ist da wer?«, rief sie laut.
Die einzige Antwort, die sie erhielt, war der verärgerte Chor aufgestörter Seevögel. Alke erhoben sich von ihren Nistplätzen, ihr Gefieder schwarz und weiß oder dunkelbraun, die Schnäbel leuchtend gefärbt und zwischen den Zehen Schwimmhäute. Schwarze Lummen, Möwen und Sturmschwalben folgten ihnen und flatterten als schimpfender Schwarm umher.
Fidelma war verunsichert. Irgendwer musste sie doch gehört haben, aber keine menschliche Stimme erwiderte ihren Ruf. Langsam ging sie den mit Gras überwachsenen Pfad zur Senke hinunter, in der die Steinhütten standen. Sárnat trottete neben ihr her.
Vor den Bauten blieb Fidelma stehen und rief noch einmal, und wieder erhielt sie keine Antwort.
Sie gingen um eines der Häuser und befanden sich auf einem viereckigen Platz. Schwester Sárnat schrie auf.
In der Mitte des Vierecks stand ein verkümmerter Baum, etwa zwölf Fuß hoch, gebeugt und verkrüppelt von den kalten Atlantikwinden. An den dünnen Stamm war ein Mensch gefesselt, um die Handgelenke geschlungene und um einen Ast gebundene Lederriemen ließen ihn nicht zu Boden sinken. Obwohl der Mann mit dem Gesicht zum Baumstamm hing, war sofort zu erkennen, er war tot.
Vor Angst und Schrecken zitternd, stand Schwester Sárnat neben Fidelma. Die aber kümmerte sich jetzt nicht um das Mädchen, sie machte ein paar Schritte auf den Leichnam zu und betrachtete ihn eingehend. Die blutbefleckten Gewänder waren eindeutig das Habit eines Geistlichen. Der Kopf war vorn kahlgeschoren bis zu einer Linie von einem Ohr zum anderen, das Haar am Hinterkopf lang. Das war die Tonsur der irischen Kirche, die airbacc giunnae, ein Brauch, der von den Druiden stammte. Der Tote war etwa sechzig Jahre alt, ein schmächtiger Mann mit kantigen Zügen, fahler Haut und zusammengepressten Lippen. Um den Hals hing an einem Lederband ein Kruzifix von einigem Wert, ein sorgsam gearbeitetes Silberkreuz. Die streifenartig zerschlissene Rückseite des Habits war voller Blut, darunter zerfetztes Fleisch. Der Rücken wies mehrere kleine Stichwunden auf, und an den vielen aufgeplatzten Striemen war zu erkennen, dass man den Mann mit einer Geißel ausgepeitscht hatte, bevor er starb.
An den Baum war ein Stück Holz genagelt. Darauf war auf Griechisch geschrieben: »Der Gottlose ist wie ein Wetter, das vorübergehet, und nicht mehr ist …« Die Worte kamen Fidelma vertraut vor, und ihr fiel ein, sie waren aus den »Sprüchen Salomos«. Ganz offensichtlich hatte man das Opfer geschlagen und getötet, während es an den Baum gebunden war.
Das Wehklagen ihrer Begleiterin lenkte sie ab. Sie fuhr herum, mühte sich aber, ihren Unmut zu zügeln. »Sárnat, geh zurück zum Rand der Klippe und hole Lorcán her.« Das Mädchen zögerte, doch sie befahclass="underline" »Nun geh schon, beeil dich!« Sárnat drehte sich um und huschte davon.
Fidelma trat näher an den hängenden Leichnam heran im Bestreben, weitere Aufschlüsse zu entdecken. Aber mehr als die Tatsache, dass der Mann schon älter und, so viel sich von dem kunstvollen Kruzifix herleiten ließ, ein Geistlicher von Rang war, konnte sie nicht ergründen. Sie ging hinüber zu dem kleinen aus Trockenmauern errichteten Bethaus, das höchstens einem halben Dutzend Andächtiger Platz bot. Es bildete den Mittelpunkt der sechs steinernen Zellen, die wohl die Unterkünfte der Gemeinde waren.
Bei einem ersten Hineinschauen in den düsteren Bau glaubte sie ein Bündel Lumpen auf dem kleinen Altar zu erkennen. Doch sobald sich ihre Augen an das schwache Licht gewöhnt hatten, begriff sie, dass dort der Leichnam eines jungen Mönchs lag. Es war ein Junge, der noch nicht zum Mann herangewachsen war. Seine Kutte war nass, das glatte braune Haar an den Schläfen angetrocknet. Die Gesichtszüge hatten nichts von der Gelöstheit im Tode an sich, sondern waren verkrampft, als ob der Junge unter großen Schmerzen gestorben war. Als sie ihn sich näher ansehen wollte, stolperte sie über etwas anderes Weiches.
Ein weiterer Geistlicher lag mit dem Gesicht nach unten und mit ausgebreiteten Armen wie ein um Gnade Flehender, der sich vor dem Altar niedergeworfen hatte. Sein Haar war dunkel. Er trug das Habit eines Klosterbruders und war deutlich älter als der Jüngling.
Fidelma kniete sich hin, suchte mit zwei Fingern den Puls an seinem Hals. Der war zwar schwach, aber spürbar, nur fühlte sich der Körper unnatürlich kalt an. Sie beugte sich tiefer, drehte vorsichtig den Kopf zur Seite. Der Mann war etwa vierzig. Seine Züge wirkten friedvoll und sogar schön, wie Fidelma fand. An der breiten Stirn hatte er eine Wunde, das Blut war bereits geronnen.
Sie rüttelte den Mann an der Schulter, doch konnte sie ihn nicht aus der Bewusstlosigkeit holen. Sie erhob sich, zwang sich, ruhig zu bleiben, und eilte von Zelle zu Zelle. Überall bot sich ihr das gleiche Bild, eine jede war menschenleer.
Lorcán kam den Pfad vom Durchlass am Klippenrand entlanggehastet. »Ich habe das Mädchen unten bei Maenach gelassen«, keuchte er. »Die ist völlig durcheinander. Ein Toter ist hier, hat sie gesagt.« Erregt blickte er sich um, doch von seiner Stelle konnte er den Baum mit dem verschandelten Leichnam nicht sehen.
»Wo sind die alle?«
»Einer zumindest lebt noch«, sagte Fidelma, ohne auf seine Frage einzugehen. »Um den müssen wir uns sofort kümmern.«
Sie führte Lorcán zum Bethaus. Dem verschlug es den Atem, als er den Jungen sah, und er beugte das Knie. »Den kenne ich. Das ist Sacán von Inis Beag. Ich selber habe ihn in die Bruderschaft hier gebracht, das ist noch keine sechs Monate her.«
Fidelma wies auf den Mann, der auf dem Boden lag. »Kennst du auch ihn?«
»Oh, ihr Heiligen, steht uns bei!«, rief der Seemann, als er genauer hingesehen hatte. »Das ist Bruder Spelán.«
Fidelma schürzte die Lippen. »Bruder Spelán?«, wiederholte sie unnützerweise.
Lorcán nickte. »Er ist der dominus von Abt Selbach, der Haushälter der Bruderschaft. Wer hat so etwas getan? Wo mögen die anderen alle sein?«
»Die Fragen versuchen wir später zu beantworten. Jetzt müssen wir ihn erst einmal an eine günstigere Stelle schaffen und ihn wieder zum Bewusstsein bringen. Dem Jungen – Sacán sagst du, heißt er – können wir wohl nicht mehr helfen.«
»Maenach versteht einiges von der Heilkunde der Ärzte. Lass mich ihn rufen, Schwester, der kann uns helfen, Spelán zu versorgen.«
»Das dauert viel zu lange.«
»Im Gegenteil, nur einen Augenblick«, versicherte ihr Lorcán und zog eine Schneckenmuschel aus dem Lederbeutel an seiner Seite. Er ging zur Türöffnung und blies lange und kräftig hinein. Aufgeschreckte Vogelschwärme waren eine erste Antwort darauf. Lorcán wartete kurz und wandte sich dann lächelnd Fidelma zu. »Maenach und die junge Schwester sind schon oben auf der Klippe, gleich sind sie hier.«
»Dann hilf mir, diesen Bruder in eine Zelle nebenan zu schaffen, damit wir ihn besser betten können als hier auf dem nackten Boden«, forderte Fidelma ihn auf.
Beim Niederknien, um den Mann anzuheben, bemerkte sie einen kleinen Holzbecher, der neben dem Bewusstlosen lag. Sie ergriff ihn und steckte ihn in ihr marsupium, die geräumige Tasche, die sie am Gürtel trug. Man würde ihn später untersuchen können.