Lorcán kaute nervös an den Lippen. »Und wenn es Piraten waren, die das hier angerichtet haben? Es gehen Geschichten um über angelsächsische Räuber, die mit ihren Langbooten herüberkommen und Dörfer an der Küste überfallen und ausplündern.«
»Möglich wäre das schon«, stimmte ihm Fidelma zu. »Aber sehr wahrscheinlich ist es nicht.«
»Wieso nicht?«, fragte Lorcán aufgebracht. »Seit Jahren unternehmen die Angelsachsen Raubzüge entlang der Küsten von Gallien, Britannien und Irland, plündern und morden …«
»Du siehst das ganz richtig«, erwiderte Fidelma und wies auf die verlassenen, aber unversehrten Steinhütten. »Sie plündern und brandschatzen, treiben das Vieh weg und verschleppen die Bewohner in die Sklaverei.«
Lorcán begriff schnell, worauf sie hinauswollte. Nirgendwo war etwas zerstört, so weit das Auge reichte, keinerlei Anzeichen mutwilliger Verwüstung. Auf dem Hang hinter dem Bethaus rupften drei oder vier Ziegen am Heidekraut, und eine fette Sau grunzte wohlig inmitten ihrer Ferkel. Auch fiel ihm das Silberkruzifix am Hals des toten Abts ein. Geraubt worden war nichts. Es war offensichtlich, Piraten hatten hier nicht gewütet und eine wehrlose Gemeinschaft überfallen. Und das gab ihm weitere Rätsel auf.
»Komm mit, Lorcán, wir schauen mal in die Zellen der Brüder«, schlug ihm Fidelma vor.
In den Türsturz der nächsten Hütte waren Worte geschnitzt.
Ora et labora. Bete und arbeite. Eine lobenswerte Ermahnung, dachte Fidelma und blieb darunter stehen. Die Zelle war bis auf wenige schlichte Gegenstände fast kahl. Den Fußboden aus gestampftem Lehm bedeckte Schilfrohr, es gab zwei hölzerne Bettgestelle, einen Wandschrank und an Haken hingen tiag leabhair, Büchertaschen aus Leder, in denen kleine Evangelienhandschriften steckten. Die Wand schmückte ein kunstvoll geschnitztes Holzkreuz, und an einer anderen lasen sie:
Animi indices sunt oculi.
Den Geist offenbaren die Augen.
Fidelma hielt das für einen merkwürdigen Wahlspruch, um eine christliche Gemeinschaft zum Glauben zu ermahnen. Dann fiel ihr neben einer Bettstatt ein Stück Pergament auf. Darauf stand ein Vers aus den Psalmen. »Zerbrich den Arm des Gottlosen und suche das Böse, so wird man sein gottlos Wesen nimmer finden …« Es überlief sie kalt, die Verkündigung eines liebevollen Gottes war das nicht. Als sie sich weiter umsah, bemerkte sie eine Truhe am Bettende mit einer griechischen Inschrift auf dem Deckel.
Pathémata mathémata. Leiden sind Lebenslehren.
Sie bückte sich und öffnete den Kasten. Der Inhalt setzte sie in Erstaunen: Geißeln, Peitschen und Rohrstöcke. In die Innenseite des Deckels waren Wörter eingeritzt, die einen Vers in reinstem Irisch ergaben:
»Gott, gib mir eine Wand aus Tränen, dahinter meine Sünden zu verstecken, wenn keine Tränen fallen, muss ich unerlöst verrecken.«
Immer noch sehr betroffen, fragte sie Lorcán: »Weißt du, wer diese Zelle bewohnt hat?«
»Gewiß«, hieß es sofort. »Selbach hat sie mit seinem dominus Spelán geteilt.«
»Was für ein Mensch war Selbach? War er jemand, der auf Zucht und Ordnung drang, einer, dem es gefiel, harte Strafen auszuteilen? Herrschte ein strenges Regiment in dieser Bruderschaft?«
Lorcán zuckte die Achseln. »Dazu kann ich nichts sagen. Ich kenne die Bruderschaft zu wenig.«
»Allenthalben finden sich Hinweise auf Schmerzen und Strafen.« Wieder lief es ihr kalt den Rücken herunter. »Ich begreife das einfach nicht.«
Sie ging zu einem Regal, auf dem verschiedene Steingutbehälter und Flaschen standen, roch daran, stippte mit angefeuchteter Fingerspitze in die Töpfe und kostete vorsichtig von den Mixturen. Als Nächstes holte sie aus ihrem marsupium den hölzernen Becher hervor, den sie im Bethaus aufgelesen hatte. Er musste erst vor kurzem benutzt worden sein, denn er war innen noch feucht. Sie roch daran. Eine merkwürdige Mischung stechender Gerüche stieg ihr in die Nase. Ein weiteres Mal ging sie die Töpfe und Gefäße mit den Kräutern durch und erkannte getrocknete Blüten des Rotklees, zerstoßene Blätter der Rosskastanie und der Königskerze.
Derweil trat Lorcán ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. »Spelán hat hier seine Apotheke. Bei einer meiner Fahrten hierher hatte ich mir die Hand verletzt. Er hat mir einen Umschlag aus Kräutern gemacht, und das hat geholfen.«
Fidelma schnaufte unzufrieden und begab sich zu den anderen Zellen, um sie gründlicher in Augenschein zu nehmen. In einer oder zweien sah es aus, als hätte man persönliche Sachen und Kleidungsstücke in aller Hast zusammengerafft, doch nichts deutete darauf hin, dass Fremde die Bruderschaft überfallen und ausgeraubt hätten.
Ziemlich ratlos verließ Fidelma die Hütten, dicht hinter ihr Lorcán, der mit sorgenvoller Miene immer wieder zum Himmel blickte. Fidelma spürte, dass er sich wegen des heraufziehenden Unwetters Sorgen machte, doch die Klärung der mysteriösen Vorgänge erlaubte keinen Aufschub. Man hatte den Abt der Bruderschaft getötet und einen jungen Klosterbruder, hatte den dominus bewusstlos geschlagen und hatte zehn weitere Angehörige der Gemeinde verschwinden lassen.
»Hast du nicht erwähnt, dass die Brüder ein eigenes Boot haben?«, fragte sie unvermittelt. »Ich habe es nicht gesehen, als wir an Land gegangen sind.«
»Konntest du auch nicht. Sie haben ihr Boot hinter der Landspitze an eine geschützte Stelle gebracht. Da ist ein kurzes, steiniges Strandstück, von dem aus man das Boot ins Wasser lassen kann.«
»Zeig mir, wo das ist«, beharrte Fidelma. »Wir müssen sowieso warten, bis Spelán wieder bei sich ist und wir von ihm erfahren, was sich hier abgespielt hat.«
Widerstrebend und immer wieder besorgt zum Himmel schauend, ging Lorcán den schmalen Weg zum Durchlass an den Klippen hinauf. Unterhalb des höchsten Punkts führte er Fidelma auf einem Trampelpfad über den großen Felsbuckel abwärts, der sich vor die Landebucht schob.
Oben auf der Kuppe, von der sich der Pfad zwischen den Granitblöcken hinunterschlängelte, beschlich Fidelma ein ungutes Gefühl. Über den ans Ufer brandenden Wogen zogen schwarze Vögel ihre Kreise, als lockte sie etwas unten am Strand.
Es waren Mantelmöwen. Vor denen musste man sich in Acht nehmen, denn sie waren furchtlose Räuber, die sich selbst auf größere Beutetiere stürzten, wenngleich sie auch mit Aas vorliebnahmen. Offensichtlich hatten sie unten am Wassersaum etwas gefunden. Selbst die Krähen hielten gebührenden Abstand von ihren Artgenossen. Einige Paare kreisten über dem Schwarm und warteten auf ihre Chance.
Fidelma presste die Lippen zusammen und folgte Lorcán zwischen den Felsbrocken nach unten. Überall saßen brütende Vögel auf ihren Nestern. Mai war der Monat, in dem die Möwen mit den schwarzen Rücken wie viele andere Vögel ihre Eier legten. Auf so felsigen Inseln wie Inis Chloichreán fanden sie ideale Nistplätze. Lorcán ließ sich von dem wütenden Zischen und Kreischen der Altvögel nicht abschrecken, während sie durch die Brutkolonie kletterten, doch Fidelma war reichlich mulmig zumute.
»Hier haben die Brüder ihr Boot aufgebockt«, erklärte ihr der Seemann, als sie eine große Felsplatte erreichten, die sich etwa zwölf Fuß oberhalb der Kieselbucht befand. Sie blieben stehen und blickten suchend umher. Da waren nur die Holzböcke, auf denen das Boot sonst lagerte, doch der Nachen war verschwunden.
»Das Boot hat immer hier gelegen, Kiel oben, um es vor der Witterung zu schützen«, meinte Lorcán verblüfft.
Nur hörte ihn Fidelma kaum in dem Gezänk der Vögel, die sich unten auf dem Uferstreifen stritten, der an die zehn Fuß breit und keine dreißig Fuß lang war. Als sie begriff, was sich dort abspielte, entfuhr ihr ein Schrei. Ein Dutzend großer Möwen hackten nach einander und suchten sich zu verdrängen. Im Umkreis saßen andere Vögel wie interessierte Zuschauer, darunter auch einige Aaskrähen, die ihre Gelegenheit abwarteten. Alle scharten sich um einen dunklen Fleck auf den Kieselsteinen. Fidelma ahnte, was es war. »Los, komm!«, rief sie und kletterte hinunter, so rasch sie konnte. Sie nahm große Kieselsteine auf und warf sie in das Getümmel. Die Vögel flogen auf, kreischten wütend und flatterten drohend mit den großen Schwingen. Lorcán kam ihr zu Hilfe und schleuderte gleichfalls große Brocken. Bald hatten sie die Vögel von ihrer Beute vertrieben, auch wenn sie in der Nähe blieben. Sie schwärmten hoch über ihnen oder ließen sich auf Felsvorsprüngen nieder und schauten mit ihren Knopfaugen nach unten. Entschlossen lief Fidelma über Kies und Schotter und erreichte den Unglücksort. Der Tote, der auf dem Rücken lag, war ein junger Mönch mit blondem Haar. Von seinem Habit waren nur noch zerschlissene, blutgetränkte Wollfetzen übrig geblieben.