Fidelma musste heftig schlucken. Die Möwen waren wohl bereits eine gute Stunde zugange gewesen. Die Wangen waren aufgehackt und blutig, ein Auge fehlte. Ein Teil des Schädels war zerschmettert, bildete nur noch einen Brei von Blut und Knochen. Das konnte nicht das Werk der Vögel sein, so viel war sicher.
»Kennst du ihn, Lorcán?« flüsterte Fidelma.
Der Ruderer kam näher, nicht ohne die Möwen aus dem Auge zu lassen. Die waren zurückgewichen, äugten aber bösartig nach den Zweibeinern, die es gewagt hatten, sie von ihrem unheiligen Mahl zu verscheuchen. Lorcán beugte sich hinab und verzog bei dem Anblick, der sich ihm bot, das Gesicht.
»Ich habe ihn hier in der Bruderschaft gesehen. Seinen Namen weiß ich leider nicht. Langsam bekomme ich es mit der Angst zu tun, Schwester. Das ist nun der dritte Tote in dieser Brudergemeinde.«
Fidelma antwortete nicht. Sie nahm allen Mut zusammen und kniete sich neben den Leichnam. Am Gürtel hing noch die crumena, die Lederbörse. Sie zwang sich, nicht auf das entstellte Gesicht und das eine verbliebene, anklagende Auge zu blicken. Sie steckte die Hand in die Börse, die war leer. Unschlüssig schüttelte sie den Kopf. »Hilf mir, den Toten umzudrehen«, forderte sie Lorcán auf. Der fragte nicht lange und griff zu.
Die Kutte hatten die Vögel schon zerfetzt. Fidelma musste den Stoff nicht weiter auseinanderziehen. Man sah viele vernarbte Stellen, doch etliche Wunden waren noch ganz frisch und blutig. Kreuz und quer liefen die Striemen über den ganzen Rücken.
»Was hältst du davon, Lorcán?«
Der Seemann schob die Unterlippe vor und hob traurig die Schultern. »Der Junge ist ausgepeitscht worden, was sonst. Nicht nur einmal, sondern regelmäßig, immer wieder.«
Den Eindruck hatte Fidelma auch. »Merke es dir gut, Lorcán. Du musst es vor Gericht bezeugen.« Sie stand auf und trieb mit ein paar Steinwürfen die großen Möwen zurück, die sich wieder näherten. Mit wütendem Gekrächze verflüchtigten sie sich.
»Wie groß war das Boot, das die Gemeinschaft hatte?«, fragte sie unvermittelt.
Lorcán verstand, worauf ihre Frage zielte. »Es war groß genug, um alle verbliebenen Brüder aufzunehmen. Die werden längst weg sein. Treiben vermutlich zwischen den Inseln oder haben vielleicht sogar schon das Festland erreicht.« Er sah sie an. »Ob sie freiwillig gegangen sind, oder hat man sie gezwungen? Wer hat das hier verbrochen?«
Mit einer Handbewegung gab ihm Fidelma zu verstehen, die Leiche wieder so zu drehen, wie sie sie vorgefunden hatten, und starrte auf den zertrümmerten Schädel. »Das ist gezielt geschehen, mit einem gewaltigen Hieb. Den jungen Mönch hat man ermordet und dann einfach liegenlassen.«
Verstört schüttelte Lorcán den Kopf. »Unendlich viel Böses hat sich hier getan, Schwester.«
»Da stimme ich dir voll und ganz zu«, erwiderte Fidelma. »Komm, lass uns Steine zu einem Hügelgrab über seinen Leichnam schichten, damit die Möwen ihn nicht weiter zerfleischen können – wer immer er auch war. In die Siedlung zurückschaffen können wir ihn nicht.«
Nachdem sie den Toten so bestattet hatten, kehrten sie zum Viereckplatz der Ansiedlung zurück. Maenach war froh, dass sie zurück waren. »Bruder Spelán kommt zu sich. Die junge Schwester kümmert sich um ihn.«
»Vielleicht bringt er uns der Klärung der grässlichen Vorgänge hier etwas näher«, meinte Fidelma hoffnungsvoll.
In der Steinhütte lehnte der Bruder halb aufgerichtet gegen ein Kissen. Er sah noch benommen aus, blinzelte immer wieder und suchte Fidelmas Gestalt mit seinen dunklen Augen zu erfassen. Sie winkte Schwester Sárnat zur Seite und setzte sich auf die Kante der anderen Bettstatt.
»Ich hab ihm nur Wasser gegeben«, sagte das Mädchen eilfertig, als erwartete sie ein Lob. »Der Seemann da«, sie zeigte auf Maenach, der mit Lorcán im Türrahmen stand, »hat die Wunde gesäubert und verbunden.«
Fidelma lächelte den Verwundeten aufmunternd an. »Du bist Bruder Spelán, nicht wahr?«
Der Mann schloss kurz die Augen. »Ich bin Spelán. Wer bist du, und was machst du hier?« Seine Stimme klang schwach.
»Ich bin Fidelma von Kildare. Ich bin gekommen, um Abt Selbach ein Schreiben von Bischof Ultan von Armagh zu überbringen.«
Verständnislos starrte er sie an. »Ein Schreiben von Ultan?«
»Ja. Deshalb haben wir hier festgemacht. Was ist passiert? Wer hat dich auf den Kopf geschlagen?«
Stöhnend griff sich Spelán mit der Hand an die Stirn. »Allmählich kommt alles wieder.« Seine Stimme wurde fester und energischer. »Der Abt ist tot, Schwester. Fahre zurück nach Dún na Sád und bestehe darauf, dass man einen Brehon hierher entsendet, denn auf der Insel ist ein scheußliches Verbrechen begangen worden.«
»Ich werde mich der Sache selbst annehmen, Spelán«, bedeutete ihm Fidelma entschieden.
»Du?« Der Verletzte starrte sie verwirrt an. »Du hast mich nicht verstanden. Was wir brauchen, ist ein Brehon.«
»Ich bin eine dálaigh beim hohen Gericht und habe den Grad eines anruth erworben.«
Spelán riss die Augen auf, denn er wusste, dass der Titel eines anruth die junge Nonne berechtigte, mit Königen zu Gericht zu sitzen, ja selbst mit dem Hochkönig.
»Erzähl uns, was hier vor sich gegangen ist«, redete ihm Fidelma zu.
Spelán blickte sich nach Schwester Sárnat um und winkte ihr, ihm den Becher mit Wasser zu reichen. Er nahm einige kräftige Schlucke daraus. »Böses hatte sich hier eingeschlichen, Schwester. Unheil war heimlich am Werke. Von mir unbemerkt, griff es um sich, bis es ausbrach und uns alle verschlang.«
Fidelma wartete geduldig.
Spelán schien seine Gedanken ordnen zu wollen und holte Luft. »Ich beginne am besten damit, wie alles anfing.«
»Das ist immer ein guter Auftakt für eine Geschichte«, bestätigte Fidelma ernst.
»Vor zwei Jahren begegnete ich Selbach, der mich dafür gewann, mit ihm eine Gemeinschaft zu gründen, die sich in Weltabgeschiedenheit der meditativen Betrachtung der Werke des Schöpfers widmete. Ich war Apotheker in einer Abtei auf dem Festland, fürwahr einem Ort der Sünde – Hochmut, Völlerei und andere Laster gediehen dort schamlos. In Selbach glaubte ich einen Seelenverwandten gefunden zu haben, der meine Ansichten teilte. Eine Weile zogen wir umher, bis wir schließlich elf junge Buschen beisammen hatten, die bereit waren, mit uns nach unseren Vorstellungen zu leben.«
»Warum nur so junge Leute?«, fragte Fidelma.
Spelán blinzelte. »Wir brauchten die Jungen, damit unsere Gemeinschaft aufblühen konnte, denn in der Jugend liegt die Kraft, mit allen Widrigkeiten fertig zu werden, die einen hier erwarteten.«
»Sprich weiter«, drängte ihn Fidelma, als der Mann eine Pause machte.
»Mit dem Segen Ultans von Armagh und der Erlaubnis des Stammesfürsten, des Ó hEidersceoil, ließen wir uns auf dieser abgeschiedenen Insel nieder.«
Wieder unterbrach er sich und trank Wasser.