Spelán hob die Schultern. »Seltsam ist das schon, Schwester, und doch ist es die Wahrheit. Unsere Gemeinschaft bestand aus ganz jungen Leuten. Selbach hatte sie alle in der Hand. Sie glaubten ihm, dass Schmerz erleiden sie dem ewigen Heil näher bringt. Da sie auf das heilige Kreuz schworen, nie über die Kasteiungen zu sprechen, die der Abt an ihnen vollzog, schwiegen sie darüber. Wahrscheinlich haben sie sogar gedacht, ich billige die Züchtigung. Ach, diese armen Jungen, sie haben schweigend gelitten, bis zum Tod des sanftmütigen kleinen Sacán … Ach, der arme, arme Junge.«
Dem dominus traten Tränen in die Augen.
Schwester Sárnat beugte sich vor und reichte ihm den Becher mit Wasser.
Ohne ein Wort stand Fidelma auf und verließ die Steinhütte.
Lorcán folgte ihr auf den Viereckplatz, auf dem sie nachdenklich stehen blieb.
»Eine schreckliche Geschichte, das muss ich schon sagen«, meinte er und blickte wieder zum Himmel. »Dem Bruder geht’s jetzt besser, und sobald du es für richtig hältst, können wir ablegen.«
Fidelma überhörte das. Sie hatte die Hände vor sich gefaltet und schaute zu Boden, wohl ohne etwas zu sehen.
»Schwester?«, mahnte sie Lorcán.
Sie hob den Kopf und merkte, dass sie nicht allein war. »Entschuldige, hast du eben etwas gesagt?«
Der Bootsführer zuckte die Achseln. »Nur, das wir uns bald auf den Weg machen sollten. Wir müssen den armen Bruder möglichst rasch nach Chléire schaffen.«
Fidelma atmete hörbar aus. »Ich glaube, der arme Bruder …«, aber sie redete nicht weiter. »Ich glaube, hier waltet ein Geheimnis, hinter das wir noch kommen müssen.«
Lorcán schaute sie ungläubig an. »Und die Erklärung, die uns Bruder Spelán gegeben hat …?«
Vollkommen ruhig erwiderte Fidelma seinen Blick. »Ich muss noch eine Weile umhergehen und die Sache überdenken.«
Der Bootsmann rang verzweifelt die Hände. »Aber, Schwester, begreif doch. Da zieht ein Wetter herauf.«
»Wenn der Sturm losbricht, bleiben wir eben hier, bis er vorüber ist.« Und als Lorcán dagegen aufbegehren wollte, schnitt sie ihm das Wort ab: »Ich sage das als dálaigh mit Gerichtsvollmacht, und du wirst dich meiner Anordnung fügen.«
Lorcán biss sich auf die Lippen, hob widerspruchslos die Schultern und wandte sich um.
Fidelma ging den Pfad hinter der Ansiedlung zwischen den Felsblöcken entlang zu dem entlegeneren Teil der Insel. Abt Selbach hatte seine Opfer auf diesen Pfad geführt, so wie Spelán es schilderte. Was ihr der Verwalter der Gemeinschaft enthüllt hatte, widerte sie an, wenngleich sie eine solche Erklärung fast erwartet hatte, nachdem sie die zerfleischten Rücken der beiden jungen Brüder gesehen hatte. Sie empfand Abscheu gegenüber den Asketen, die sich selbst als gortaigid bezeichneten, als Gläubige, die ihr Seelenheil suchten, indem sie sich und anderen Schmerz zufügten. Äbte und Bischöfe verdammten sie, und meist wurden sie in weitab gelegene Gemeinschaften ähnlicher Fanatiker vertrieben.
Hier hatte es den Anschein, dass ein schlechter Mensch seinen Willen einer Gruppe Jugendlicher aufgezwungen hatte, die kaum dem Kindesalter entwachsen waren und sich in ein Klosterleben einfügen wollten. Sie hatten es nicht besser gekannt, als sich seinem Willen zu unterwerfen, bis einer von ihnen starb. Jetzt waren diese Jünglinge von der Insel geflohen, waren verstört, hatten vermutlich den Glauben an die Botschaft Jesu verloren, die Liebe und Frieden verheißt.
Zwar wurden die religiösen Eiferer vielerorts abgelehnt, doch wusste sie, dass in manchen Abteien und Klöstern Äbte und Äbtissinen ein strenges Regiment führten und auf unzählige Gebetsübungen, Kasteiungen und Fastentage drangen. Ihr war bekannt, dass Erc, der Bischof von Slane, sommers wie winters seine frommen Anhänger an kalte Bergbäche führte und sie zwang, viermal am Tag in die eisigen Wasser zu tauchen und zu beten und Psalmen zu sprechen. Und das war der Schirmherr des heiligen Brendan von Clonfert. Der Asket Mac Tulchan ließ Flöhe sich auf seinem Leib nähren und kratzte sich nie, um so seine Qualen zu vergrößern. Und hatte nicht Finnian von Clonard sich vorsätzlich von einem sterbenden Kind mit einer grassierenden Seuche angesteckt, nur um Erlösung durch selbstauferlegte Qualen zu erlangen?
Abtötung des Fleisches und Schmerz ertragen. Ultan von Armagh gehörte zur Gruppe derer, die denen, die sich masochistischen Quälereien hingaben, Mäßigung predigten, den Asketen, die fanatisch ihren Körper quälten, die ihr Seelenheil erzwingen wollten durch unnatürliche Bedürfnislosigkeit, Überanstrengung oder körperliche Leiden.
Sie unterbrach ihre Wanderung, setzte sich auf einen Felsblock, faltete die Hände im Schoß und grübelte, welche Anhaltspunkte sich ihr boten. Es schien eindeutig – alles, was Spelán vorbrachte, passte zueinander. Nur warum spürte sie, da war etwas falsch? Sie öffnete ihr marsupium und zog den Fetzen Stoff heraus, der an dem Gürtelhaken des jungen Sacán hängengeblieben war. Dass er aus irgendeinem Kleidungsstück herausgerissen war, lag auf der Hand, nur stammte er nicht von der Kutte des kleinen Mönchs. Und dann war da der hölzerne Becher, den sie im Bethaus aufgelesen hatte. Mittlerweile war er ausgetrocknet, doch zuvor musste jemand daraus ein Kräutergebräu getrunken haben.
Aus dem Augenwinkel nahm sie eine Bewegung zwischen den Felsen wahr. Sie drehte sich flugs um und blickte einen Moment in die dunklen Augen eines verschreckten Jungen, der die Kapuze seines Habits über den Kopf gezogen hatte. Im Nu war er zwischen den Felssäulen verschwunden.
»Halt!«, rief Fidelma, sprang auf und stopfte hastig Becher und Tuchfetzen in ihr marsupium. »Bleib stehen, Bruder, ich tue dir nichts!«
Doch der junge Mönch rannte davon, und seine Spur verlor sich auf dem felsigen Grund. Verärgert entfuhr ihr ein Fluch. Sie wollte ihm hinterherjagen, aber da hörte sie ihren Namen. Schwester Sárnat kam angekeucht. »Bruder Spelán und Lorcán schicken mich. Lorcán bittet dich inständig, zurückzukommen, ein Sturm zieht herauf.«
Fidelma hatte eine sarkastische Bemerkung über Lorcáns Befürchtungen auf der Zunge, doch Sárnat sprach bereits weiter. »Bruder Spelán ist auch dafür, dass wir die Insel sofort verlassen und die Geschehnisse dem Abt von Chléire melden. Der Bruder ist wiederhergestellt und nimmt die Dinge in die Hand. Ihm fiel ein, dass du ja hergekommen bist, um Abt Selbach ein Schreiben von Ultan zu überbringen. Da Selbach aber tot und er der dominus ist, erwartet er, dass du ihm das Schreiben gibst. Es könnte darin etwas stehen, das noch zu bedenken oder zu erledigen ist, bevor wir die Insel verlassen.«
Fidelma vergaß, dass sie dem Jüngling hinterher wollte, und starrte Sárnat an. Die Novizin wartete schüchtern und wusste nicht, weshalb Fidelma sie so durchdringend anschaute. »Schwester …«, begann sie zaghaft.
Unvermittelt ließ sich Fidelma auf den nächsten Stein fallen. »War ich ein Narr«, murmelte sie, griff in ihr marsupium und zog die Briefe heraus. Den an den Abt von Chléire schob sie zurück, aber Ultans Schreiben an Selbach riss sie vor den erstaunten Augen von Schwester Sárnat auf. Sie überflog den Brief, und grimmiges Lächeln umspielte ihre Lippen.
»Geh schon vor, Schwester«, sagte sie, stand auf und stopfte den Brief in ihre Tasche. »Geh zurück zu Bruder Spelán. Sag ihm und Lorcán, ich komme gleich nach. Ich nehme an, wir können ablegen, noch ehe der Sturm losbricht.«
Sárnat war nun vollends verunsichert. »Mach ich, Schwester. Aber warum kommst du nicht gleich mit?«