Während Fidelma sich hinten in der winzigen Kirche, die nicht mehr als zwei oder drei Dutzend Gläubige fasste, einen Platz suchte, wurde eine Messe gefeiert. Es waren nur sechs bis sieben Leute anwesend, die mit gesenktem Kopf dastanden und dem Priester lauschten, der die altehrwürdigen Worte psalmodierte.
Angelegentlich betrachtete sie die Kirchgänger. Die Baudenkmale, die Geräusche, die Menschen Roms – alles war ihr neu und nahm ihre Aufmerksamkeit gefangen. Ein junges Mädchen in der kleinen Schar der Betenden fiel ihr zuerst auf. Sie konnte nur ihr Profil sehen, soweit eine Haube das zuließ, die züchtig ihr wohlgeformtes Haupt verhüllte. Es war ein zartes, fein modelliertes, anziehendes Antlitz, das Fidelma in seiner scheuen Schönheit gefiel. Neben ihr stand ein junger Mann im Habit eines Mönchs. Auch auf sein Gesicht hatte sie keinen freien Blick, gewann aber den Eindruck, dass er gutaussehend war und irgendwie eine Ähnlichkeit mit den Zügen des Mädchens aufwies. Des weiteren war da ein schlanker, wettergebräunter junger Bursche. In seiner seemännischen Ausstaffierung erinnerte sie ihn an die Seeleute in Gallien. Sehr glücklich war er nicht, wie seine finstere Miene verriet. Hinter den dreien stand ein untersetzter Herr, angetan in den reichen Gewändern eines höheren Geistlichen. Fidelma waren genügend Äbte und Bischöfe begegnet, so dass sie ihm durchaus einen solchen Rang zubilligte. In einer anderen Ecke stand ein beleibter, dunkelhäutiger Andächtiger. Er wirkte erregt, war gut gekleidet und vermutlich ein wohlhabender Kaufherr. Hinten im Kirchenschiff bemerkte sie das letzte Mitglied dieser Gläubigenschar, einen jungen Mann im Dienstkleid der custodes von Rom, der Hüter von Gesetz und Ordnung. Er war dunkelhaarig und recht hübsch, hatte aber etwas Hochmütiges an sich, das zu seinem militärischen Beruf passte.
Vorne schwang der Diakon eine kleine Glocke, und der zelebrierende Priester hob den Kelch mit dem Wein. »Dies ist der Kelch meines Blutes!«, intonierte er und wandte sich dem Diakon zu, der die Silberschale mit der geweihten Hostie hochhielt.
Die kleine Gemeinde begab sich zum Altar und stellte sich vor dem Priester auf. Als erster erhielt der hübsche junge Mönch die Hostie, legte sie sich in den Mund, verneigte sich vor dem Priester, der den Kelch in Händen hielt, und empfing dann den Wein. Er ging beiseite, und seine junge Begleiterin trat vor, um das Sakrament zu empfangen.
Noch hatte sich der Mönch nicht ganz der Gemeinde zugewandt, da veränderten sich seine Züge, er begann zu husten und zu würgen, der Mund stand ihm offen, die Zunge hing heraus. Mit einer Hand fuhr er sich an die Kehle, das schmerzverzerrte, gerötete Gesicht lief blau an. Die Augen waren aufgerissen und starrten ins Leere. Laute kamen aus seiner Kehle, die Fidelma an das Quieken eines Schweins erinnerten, das abgestochen wird. Vor den entsetzten Blicken der Versammelten sank der junge Mann zu Boden, strampelte noch einige Augenblicke, schlug um sich und blieb reglos liegen.
Es war totenstill, niemand rührte sich. Dann zerriss ein schriller Schrei der jungen Frau die Luft. Sie warf sich über den Gestürzten, kniete dann neben ihm nieder, weinte und kreischte in einer seltsamen Sprache, die bei ihrem Geschluchze gänzlich unverständlich war.
Da niemand in der Lage schien, sich zu rühren, eilte Fidelma nach vorn. »Lass keinen weder den Wein noch das Brot berühren«, warnte sie den Priester, der den Kelch noch in Händen hielt. »Der Mann ist vergiftet worden.«
Sie spürte mehr, als dass sie es sah, wie sich alle Anwesenden ihr zuwandten und sie teils verwirrt, teils überrascht ansahen.
»Wer gibt dir das Recht, hier Anordnungen zu treffen? Wer bist du, Schwester?«, fuhr sie eine grobe Stimme an. Es war der hochmütige custos, der sich nach vorn drängte.
Mit blitzenden Augen schaute sie den argwöhnischen Ordnungshüter an. »Ich habe hier keine Amtsgewalt, wenn du das meinst. Ich bin eine Fremde in dieser Stadt. Doch in meinem Land bin ich eine dálaigh, Anwältin bei den hohen Gerichten, und die Anzeichen eines schnell wirkenden Gifts erkenne ich auf den ersten Blick.«
»Da haben wir es, du selbst gibst zu, du hast hier nichts zu sagen«, schnauzte der custos, der mit seiner Wichtigtuerei seinen Dienstrang herauskehren wollte. »Ich aber …«
»Die Schwester hat vollkommen recht, custos«, unterbrach ihn eine Stimme, die ruhig und gedämpft, doch gebieterisch klang. Der untersetzte Herr hatte sich eingemischt und brachte damit den jungen Wächter aus der Fassung.
»Ich habe hier Amtsgewalt«, erklärte der geistliche Herr Fidelma. »Ich bin Abt Miseno, und diese ecclesia gehört zu meinem Sprengel.«
Seine weiteren Worte galten dem zelebrierenden Priester und dem Diakon. »Tut, was die Schwester sagt, Pater Cornelius. Stellt Wein und Brot beiseite und achtet darauf, dass sie von niemandem angerührt werden.«
Der Priester folgte der Aufforderung augenblicklich, und auch der Diakon setzte den Hostienteller sorgsam auf dem Altar ab.
Abt Miseno schaute auf das schluchzende Mädchen. »Wer war dieser Mann, meine Tochter?«, erkundigte er sich mitfühlend, beugte sich hinunter und legte ihr eine Hand auf die Schulter.
Sie hob das tränenüberströmte Gesicht. »Ist er …?«
Miseno bückte sich noch tiefer und tastete nach der Halsschlagader des Mannes. Eigentlich erübrigte sich das. Ein einziger Blick auf das verkrampfte, erstarrte Gesicht genügte, um festzustellen, dass dem jungen Mönch nicht mehr zu helfen war. Vielleicht wollte er dem Mädchen mit seiner Geste auch nur die Gewissheit geben, dass das Schicksal unabwendbar war. Der Abt schüttelte den Kopf. »Er ist tot, meine Tochter«, bestätigte er. »Wer war er?«
Das Mädchen weinte hemmungslos und war nicht in der Lage zu antworten.
»Er hieß Docco und stammte aus Pouancé in Gallien«, antwortete für sie der junge Seemann, der mit dem Klosterbruder und dem Mädchen vorn gestanden hatte.
»Und wer bist du?«, fragte Abt Miseno.
»Ich heiße Enodoc. Ich war Doccos Freund und komme auch aus Gallien. Das Mädchen ist Egeria, Doccos Schwester.«
Abt Miseno stand kurz mit gesenktem Kopf da und überlegte. Dann schaute er auf und bat Schwester Fidelma: »Würdest du einen Augenblick mitkommen, Schwester?«
Er ging voran in eine Ecke der Kirche, wo die anderen sie nicht hören konnten. Fidelma folgte ihm gespannt.
»Ich habe in Bobbio studiert, das vor fünfzig Jahren von Columban und seinen irischen Gelehrten gegründet wurde«, eröffnete er ihr mit gedämpfter Stimme. »Dort habe ich viel über dein Land gelernt, auch über euer Rechtssystem und mit welchen Aufgaben eine dálaigh betraut wird. Bist du wirklich auf dem Gebiet bewandert?«
»Ich bin Anwältin und befugt, an den Gerichten meines Landes zu wirken«, erklärte Fidelma schlicht, ohne sich in den Vordergrund zu spielen, und fragte sich, worauf er hinauswollte.
»Dein Latein ist bemerkenswert.«
Fidelma wartete geduldig.
»Ganz offensichtlich wurde dieser Mönch vergiftet«, fuhr Miseno nach kurzem Überlegen fort. »War es ein Missgeschick, oder wurde er absichtlich getötet? Ich denke, wir sind gehalten, das so schnell wie möglich herauszufinden. Wenn sich die Kunde von diesem Vorfall verbreitet, bedarf es keiner großen Phantasie, sich auszumalen, wie er ausgelegt werden würde. Es könnte sogar die Gläubigen abhalten, fürderhin das heilige Sakrament zu empfangen. Ich wäre dir dankbar, Schwester, wenn du mit deinen Kenntnissen den Dingen hier auf den Grund gingest, noch ehe wir der Obrigkeit Meldung erstatten müssen.«