»Das dürfte dem jungen custos wenig gefallen«, meinte Fidelma und wies flüchtig auf den ungeduldig wartenden Wächter. »Er ist gewiss der Ansicht, diese Aufgabe stünde ihm zu.«
»Er hat hier keine Befugnisse. Die habe ich. Entsprichst du meiner Bitte?«
»Ich will gern alle hier befragen, doch kann ich nicht versprechen, ob das zu einem Ergebnis führt«, erwiderte Fidelma.
Der Abt machte eine unglückliche Miene und hob hilflos die Hände. »Der Schuldige muss jemand in der kleinen Schar hier sein. Du bist geübt, dergleichen zu ergründen. Wirst du es versuchen …?«
»Also gut. Nur gehöre ich auch zu der kleinen Schar. Woher willst du wissen, dass ich schuldlos bin?«
Abt Miseno war verblüfft, doch dann überzog ein breites Lächeln sein Gesicht. »Du bist ja erst gegen Ende des Gottesdienstes hereingekommen und hast ganz hinten gestanden. Wie hättest du Gift in Brot oder Wein tun können, während beides vor aller Augen auf dem Altartisch stand?«
»Das stimmt natürlich. Doch wie sieht es mit den anderen aus? Waren alle während der ganzen Messe hier?«
»Doch, ich denke schon.«
»Du selbst auch?«
Der rundliche Abt lächelte gezwungen. »Du darfst mich zu deinen Tatverdächtigen zählen, bis du genügend Erkenntnisse hast, die das Gegenteil bezeugen.«
»Also gut. Zuallererst müssen wir wissen, wie das Gift verabreicht wurde.«
»Ich werde unseren Stadtwächter ermahnen, dir mit Respekt zu begegnen und deinen Anweisungen zu folgen.«
Sie gingen zu der Gruppe hinüber, die beklommen um den toten Gallier herum stand. Seine wehklagende Schwester hielt noch immer die Arme um seinen Kopf geschlungen.
Der Abt räusperte sich. »Ich habe die Ordensschwester gebeten, wegen dieses Todesfalls eine Befragung durchzuführen«, begann er. »Sie ist hervorragend geeignet dafür. Ich vertraue darauf, dass ihr sie alle«, er ließ seinen Blick auf dem hochmütigen Stadtwächter ruhen, »dabei unterstützt. Sie hat meinen Segen und meine kirchliche Vollmacht.«
Alle schwiegen, und manche blickten ratlos zu ihr hin.
Fidelma trat vor. »Ich möchte, dass ihr euch alle an die Plätze begebt, an denen ihr gestanden habt, bevor das hier geschah.« Teilnahmsvoll lächelte sie dem jungen Mädchen zu. »Du musst das nicht, wenn du es nicht möchtest, doch für deinen Bruder kannst du nichts Besseres tun, als wahrheitsgemäß die Fragen zu beantworten, die ich dir stellen werde.«
Enodoc beugte sich zu ihr herab, um ihr hochzuhelfen und sie sanft vom Leichnam ihres Bruders zu lösen. Dann geleitete er sie an ihren Platz. Zögerlich kamen alle Mitglieder der Gemeinde Fidelmas Aufforderung nach.
Sie ging zum Altartisch, nahm eine Hostie von der Silberplatte und schnüffelte argwöhnisch daran. Vorsichtig untersuchte sie auch die übrigen Bröckchen, doch die schienen ganz in Ordnung. Danach roch sie an dem Kelch mit dem Abendmahlswein, konnte aber den merkwürdigen Geruch nicht recht zuordnen. Er wirkte bitter, und allein schon die Ausdünstung spürte sie in der Kehle, sie hatte Mühe, Luft zu holen, und musste heftig husten.
»Wie ich mir dachte, der Wein ist vergiftet«, ließ sie alle wissen. »Welcher Art das Gift ist, kann ich nicht sagen, doch allein seine Dünste sprechen für sich. Seine unmittelbare Wirkung habt ihr alle erlebt, ich muss euch nicht zur Vorsicht mahnen.«
Sie winkte dem jungen Stadtwächter. »Nimm zwei Schemel und stelle sie« – sie blickte umher und fand eine abgeschirmte Ecke im Kirchlein – »… und stelle sie dort hin. Dann bezieh bitte Posten an der Tür und lass niemand hinein oder heraus, bis ich dich rufe.«
Der junge Krieger wollte schon aufbrausen und schaute zum Abt. Doch der machte nur eine knappe Bewegung mit der Hand, und der Bursche fügte sich.
»Zuerst möchte ich mit dir reden, Diakon«, sagte Fidelma und ging zu den Schemeln. Sie setzten sich, und Fidelma hatte Gelegenheit, den Diakon näher in Augenschein zu nehmen. Er war kaum zwanzig Jahre alt, hatte dunkles Haar und ein unschönes Gesicht. Die Augen standen eng beieinander, darüber wölbten sich buschige Brauen. Er war schlecht rasiert, und die Haut unter den Bartstoppeln schimmerte unangenehm blau.
»Wie heißt du?«
»Tullius.«
»Wie lange versiehst du schon dein Amt hier?«
»Seit sechs Monaten.«
»Als Diakon gehört es zu deinen Obliegenheiten, Wein und Brot für die Segnung bereitzustellen. So ist es doch, nicht wahr?«
»Ja.«
»Hast du das auch heute getan?«
»Ja.«
»Reden wir über den Wein.«
Der Diakon schien verunsichert. »Wie meinst du das?«
»Sprich über den Wein im Kelch. Wo kam der her, wie wurde er eingefüllt, war er zu irgendeinem Zeitpunkt unbeaufsichtigt?«
»Der Wein wird in der Stadt gekauft. Wir haben immer einen Vorrat von einigen Amphoren in den Gewölben unter der ecclesia. Heute früh bin ich nach unten gegangen und habe einen Krug gefüllt. Ich habe gezählt, wie viele Gläubige gekommen waren, und habe die entsprechende Menge Wein in den Kelch gegossen. Das wird immer so gemacht. Mit dem Brot verfahren wir genauso. Wenn Brot und Wein gesegnet sind und die Transsubstantiation erfolgt ist, darf keine der Hostien und erst recht kein Tropfen des Blutes Christi vergeudet werden. Alles muss bis aufs Letzte aufgebraucht werden.«
In den Kirchen Irlands galt das Empfangen von Brot und Wein lediglich als eine symbolische Geste in Erinnerung an Christus. Rom jedoch hatte damit begonnen, die Ansicht zu verfechten, dass bei der Segnung die irdische Materie sich buchstäblich in Fleisch und Blut Christi verwandele. Fidelmas skeptisches Lächeln war nicht als Geringschätzung gegenüber der neuen Lehre zu verstehen, sondern galt mehr der Vorstellung, wie der vergiftete Wein als das leibliche Blut des Heilands begriffen werden könnte. Wer, fragte sie sich, würde es jetzt noch auf sich nehmen, davon zu trinken?
»Du hast also den Wein aus dem Krug in den Kelch gefüllt, nachdem du dich vergewissert hattest, wie viele Leute die Messe besuchen?«
»Ja, so war das.«
»Wo ist der Krug jetzt?«
»In der Sakristei.«
»Gehen wir dort hin. Ich möchte ihn sehen.«
Der Diakon stand auf und führte sie durch eine Tür hinter dem Altar in einen Nebenraum der ecclesia. Dort wurden die Kultgeräte und die Messgewänder des Priesters aufbewahrt. Fidelma schaute sich in der schmalen Kammer um, sie war nicht mehr als sechs Fuß breit und zwölf Fuß lang. Gleich neben der Tür, die sich zum Kirchenschiff öffnete, gab es einen Zugang zu den Steinstufen hinunter in die düstere Krypta. Am anderen Ende der Sakristei befand sich eine dritte Tür mit einem kleinen rautenförmigen Fenster in der Mitte, das einen Blick nach draußen erlaubte. An Wandhaken hingen mehrere Kleidungsstücke, auf Regalen standen Heiligenfiguren und etliche Bücher. Ferner gab es eine Bank mit einigen Brotlaiben und dem Weinkrug. Fidelma beugte sich über den Krug und schnupperte. Nichts von einem ätzenden Geruch. Sie tauchte den Zeigefinger in den Wein, roch und leckte vorsichtig daran. Kein Anzeichen eines bitteren Geschmacks. So viel stand fest, das Gift konnte erst in den Wein gelangt sein, nachdem er in den Kelch gegossen worden war.
»Ist der Kelch, der heute benutzt wurde, der Kelch, der bei jeder Messe benutzt wird?«
Der Diakon nickte.
»Und der Kelch hat hier in der Sakristei gestanden, während du den Wein aus dem Gewölbe geholt hast?«
»Ja. Auf meinem Weg zur Kirche habe ich wie immer das Brot gekauft und da abgelegt, um es in kleine Scheiben zu schneiden. Dann bin ich in die Krypta gestiegen, hab den Wein in den Krug gefüllt und ihn neben den Kelch gestellt. Abt Miseno kam herein und ging, soweit ich mich erinnere, ohne sich aufzuhalten durch die Sakristei in den Kirchenraum zur Gemeinde. Wie ich feststellte, waren nur wenige zum Gottesdienst gekommen, und entsprechend wenig Wein goss ich in den Kelch.«