Die Miene des Abts verriet, dass sie mit ihrer Vermutung recht hatte. »Was hat das mit dem Tod des Galliers zu tun?«
»Alles hat damit zu tun«, versicherte ihm Fidelma.
Sie wandte sich um und forderte die kleine Gemeinde auf, sich vor dem Altar zu versammeln.
»Ich bin nun in der Lage, euch zu erklären, warum Docco, ein Besucher dieses Landes und dieser Stadt, starb«, verkündete sie kühl und sachlich.
Mit erwartungsvollen Gesichtern kamen sie heran und drängten sich um sie.
»Schwester Fidelma!«, rief Egeria. »Wir wissen doch, dass nur einer unter uns meinen Bruder lieber tot als lebendig sehen wollte. Für alle anderen war er ein Fremder.«
Enodoc wurde kreidebleich. »Das ist nicht wahr. Niemals würde ich jemandem etwas zuleide tun …«
»Das glaube ich dir nicht!«, schrie Egeria. »Du allein hattest Grund, ihn zu töten, wer denn sonst!«
»Wie aber, wenn Docco einfach nur deshalb gestorben ist, weil er der Erste war, der das Abendmahl empfangen wollte?«, unterbrach sie Fidelma.
Gespannte Stille griff um sich. »Fahre fort«, drängte sie der Abt in eisigem Tonfall.
»Docco war nicht als Opfer ausgewählt. Jeder von uns hätte das Opfer sein können. Hinter dem Verbrechen stand die Absicht, Pater Cornelius in Verruf zu bringen.«
Abt Misenos Augen funkelten Fidelma böse an. »Diese Anschuldigung musst du uns begründen …«
»Dazu bin ich bereit. Eine Bemerkung, die der Abt machte, brachte mich auf das wirkliche Motiv für diese schreckliche Tat. Er sagte, wäre Pater Cornelius ein der Kirche treu ergebener Priester gewesen, dann hätte das Gift unwirksam werden müssen, weil sich bei der Segnung der Wein in das Blut Christi verwandele. Das Tatmotiv bestand also darin, vorzuführen, dass Pater Cornelius unwürdig sei, das Priesteramt auszuüben.«
Pater Cornelius schaute sie überwältigt an.
Fidelma fuhr fort: »Seit einiger Zeit trug Diakon Tullius dem Abt Geschichten über das Fehlverhalten von Cornelius zu, die dieser mit aller Entschiedenheit zurückweist. Doch Abt Miseno glaubte sie vorbehaltlos. Tullius ist sein Schützling und kann in seinen Augen nichts Unrechtes tun. Außerdem beabsichtigte Miseno, den Diakon zu ordinieren, und als Priester würde er eine eigene ecclesia benötigen. Was bot sich da besser an als diese Kirche … Vorausgesetzt, man hatte Cornelius seines Amts enthoben. Doch Cornelius wehrte sich. Eine Anschuldigung wegen würdelosen Betragens und Fehltritts hätte vor dem zuständigen Bischof begründet werden müssen.«
»Wen klagst du nun an?«, rief Cornelius dazwischen. »Miseno oder Tullius?«
»Keinen von beiden.«
Ihre Erwiderung traf auf verständnislose Blicke.
»Wen dann?«
»Terentius, den Stadtwächter!«
Der junge Bursche trat einen Schritt zurück und zog sein kurzes Amtsschwert. »Das geht nun wirklich zu weit, du Barbarin!«, schrie er wütend. »Ich bin ein Römer. Dir wird hier niemand glauben.«
Tullius’ verzweifelter Ausbruch kam unerwartet. »Was hast du getan, Terentius?«, rief er mit sich überschlagender Fistelstimme. »Ich habe dich mehr geliebt als mein Leben, und du hast alles zunichte gemacht.«
Er rannte auf ihn zu, als wollte er ihn umarmen, verharrte aber plötzlich regungslos. Unversehens war er in das Schwert gelaufen, das der custos abwehrend vor sich hielt. Ein gurgelnder Schrei entrang sich seiner Brust, Blut spritzte aus seinem Mund, und er fiel nach vorn. Enodoc griff zu und entriss dem Wächter das Schwert. Der wehrte sich nicht, stand steif da und starrte auf den Leichnam seines Freundes.
»Nur für dich, Tullius, habe ich das getan!«, jammerte er, sank auf die Knie und griff nach der Hand des Toten. »Für dich, nur für dich!«
Kurze Zeit später saßen Fidelma, Pater Cornelius und Abt Miseno beisammen.
»Ich war mir nicht sicher, ob Tullius und Terentius das gemeinsam geplant hatten oder ob sogar du, Abt Miseno, in den Plan mit einbezogen warst«, sagte sie.
Miseno schaute gequält drein. »Ich mag ja ein Narr sein, Schwester, und falsche Entscheidungen treffen, aber ein Mörder bin ich nicht.«
»Wie bist du dahintergekommen, dass Terentius der Mörder war?«, fragte Pater Cornelius. »Das begreife ich nicht.«
»Da war zunächst das Motiv. Die Vermutung, Docco sei mit Vorbedacht umgebracht worden, ließ sich schnell widerlegen. Dafür gab es zu viele Unwägbarkeiten: Man war von zu vielen Zufällen abhängig und konnte nicht sicher sein, dass der Gallier das erste und beabsichtigte Opfer wurde. Ich musste also nach einem anderen Motiv suchen, und so verborgen war das gar nicht. Ich habe ja erläutert, dass die Auslegung, die Abt Miseno dem Mysterium der Transsubstantiation gab, mir ein Fingerzeig war. Das Motiv bestand darin, dich, Pater Cornelius, in Verruf zu bringen. Wem hätte das genutzt? Offenbar Tullius, dem Diakon.«
»Und dennoch hast du Tullius für unschuldig gehalten.«
»Wäre er daran beteiligt gewesen, hätte er sich ein besseres Alibi zurechtgelegt, denn anfänglich schien es ja, dass nur er die Gelegenheit gehabt hätte, den Wein zu vergiften. Dann erfuhr ich, dass Tullius einen Liebhaber hatte. Da wurde mir klar, das Terentius, der custos, der Täter sein musste.«
»Was hat dich so sicher gemacht?«
»Terentius war der Einzige, der die Gelegenheit hatte, das Gift in den Kelch zu tun. Er sagte mir, er hätte die Kirche durchs Hauptportal betreten, kurz bevor der Seemann aus Gallien durch die Sakristei in die Kirche kam. Zum anderen erzählte er jedoch, er wäre die Straße entlanggekommen und hätte gesehen, wie ihr beide euch draußen auf dem Pfad vor der Sakristei gestritten habt.«
»Stimmt, wir haben uns wirklich gestritten«, bestätigte Miseno.
»Das will ich glauben. Aber die Sakristei, vor der ihr standet, hat ihren Zugang von einem Pfad auf der anderen Seite der Kirche, wie ich von Enodoc erfuhr. Man muss einen ziemlichen Umweg machen, um ans Hauptportal zu gelangen. Für den blieb Enodoc keine Zeit, und deswegen ist er durch die Sakristei in die Kirche gestürmt.«
»Dem kann ich nun gar nicht folgen.«
»Wenn Terentius euch beide beim Wortwechsel gesehen hat, und das war auf dem Pfad vor der Sakristei, dann war er folglich auf der anderen Seite der Kirche. Was hatte er da zu suchen? Warum ist er nicht wie Enodoc durch die Sakristei gegangen, wo doch die Messe gleich beginnen sollte? Schließlich hatte er sich mit Tullius oft genug dort getroffen.
Er hat euch miteinander streiten sehen, hat abgewartet, bis ihr hineingegangen wart, hat durchs Fenster der Sakristeitür beobachtet, was drinnen vorging, und als Tullius das Brot in die Kirche brachte, schlüpfte er hinein, tat das Gift in den Wein und verschwand. Danach eilte er um die Kirche herum, betrat das Gebäude durch das Portal und hatte sich so ein Alibi verschafft.«
»Und er hat die schreckliche Tat aus keinem anderen Grund begangen als dem, Tullius zu helfen, hier Pfarrer zu werden?«, fragte Miseno verwundert.
»Ja. Er hatte gedacht, es wäre unerheblich, wen das Gift tötete, es käme nur darauf an, dass du glaubtest, Cornelius könnte nicht länger Priester sein, weil die Transsubstantiation sich nicht ereignet habe. Das würde sicherstellen, dass die Stelle Tullius zufiel. Der Plan wäre beinahe gelungen. Liebe lässt die Menschen unsinnige Dinge tun, Miseno. Heißt es nicht bei Publilius Syrus: amare et sapere vix deo conceditur? Selbst einem Gott fällt es schwer, jemand zu lieben und dennoch weise zu bleiben.«
Miseno nickte. »Amantes sunt amentes«, stimmte er ihr zu. »Liebende sind von Sinnen.«
Fidelma wiegte betrübt den Kopf. »Es war ein beklagenswerter und unnötiger Tod. Wesentlich aber scheint mir eins, Abt Miseno: Wir sollten daraus lernen, einen symbolisch gemeinten Vorgang nicht als wahre Begebenheit zu deuten.«