»Da gehen unsere theologischen Ansichten wohl auseinander, Fidelma«, seufzte der Abt. »Aber unser Glaube ist weitherzig genug, um auch unterschiedliche Auffassungen miteinander zu vereinen. Wenn das nicht so wäre, würden wir eines Tages des Glaubens verlustig gehen.«
»Sol lucet omnibus«, entgegnete Fidelma leise, wenn auch mit leisem Spott. »Die Sonne scheint für jedermann.«
BEFLECKTER HEILIGENSCHEIN
Pater Allán schaute unwillig auf, weil er bei seinen Gebeten gestört wurde, als Schwester Fidelma unangemeldet die Tür seiner Zelle öffnete.
»Man sagt mir, ihr bräuchtet dringend eine Anwältin«, erklärte sie ohne Umschweife.
Als er sich erhob und hastig das Knie vor dem Kruzifix an der Wand beugte, vor dem er gebetet hatte, bemerkte sie, dass sein Gesicht von Sorgenfalten durchzogen war. Er musterte die junge Nonne, die im Türrahmen wartete. Der Überraschung auf seinen Zügen nach zu urteilen, hatte er wohl jemand anderes erwartet. Schwester Fidelma war groß, und unter ihrer Haube quollen widerspenstige rote Haarsträhnen hervor. Ihre schlanke, kraftvolle Gestalt ließ auf unbändige Lebensfreude schließen, die die Ordenstracht kaum verbergen konnte.
»Bist du die dálaigh, die man mir angekündigt hat?« In Pater Alláns Stimme schwang Ungläubigkeit mit.
»Ich bin Fidelma von Kildare, Anwältin bei Gericht«, bestätigte sie ihm. »Ich habe mein Studium mit dem Rang eines anruth abgeschlossen.«
Der Vater Superior schluckte schwer, dann fielen ihm seine guten Manieren wieder ein, und er streckte die Hand aus, um die junge Nonne hereinzubitten.
»Willkommen, Schwester. Willkommen in unserer Gemeinschaft des Glaubens und Friedens …«
Fidelma unterbrach ihn mit einer knappen Handbewegung.
»So friedlich ist es hier offenbar nun auch wieder nicht, habe ich gehört …«, meinte sie trocken. Der Abt von Lios Mór Mochuda hat mir mitgeteilt, dass in diesen Mauern ein Mord begangen wurde und du eine dálaigh brauchst. Ich bin so schnell gekommen, wie ich nur konnte.«
»Nicht in diesen Mauern, um genau zu sein«, erwiderte Pater Allán. »Komm mit in unseren Garten. Dann will ich versuchen, dir die Angelegenheit zu erklären.«
Er führte sie ein wenig von den winzigen grauen Klostergebäuden weg, die hoch auf einem Felsvorsprung standen, der über einem Wald aufragte und neben dem sich ein Fluss durch das Tal schlängelte. Die kleine Ordensgemeinschaft hatte einen atemberaubenden Ausblick über das Grün auf die in blauem Dunst liegenden Berge.
Hinter einem aus Feldsteinen errichteten Oratorium befand sich ein kleiner, von einer Mauer umgebener Garten. Ein junger Mönch war in der hinteren Ecke eifrig damit beschäftigt, den Boden zu hacken. Pater Allán geleitete Fidelma zur Mauer und ließ sich darauf nieder. So waren sie außer Hörweite des jungen Mannes. Es war Mittagszeit, und die Sonne schien ihnen warm und angenehm auf die Haut. Fidelma setzte sich neben ihn auf die Mauer.
»Nun …?«, forderte sie ihn auf.
»Hier ist in der Tat ein Mord geschehen, Fidelma von Kildare«, bestätigte Pater Allán in sorgenschwerem Ton.
»Wer wurde getötet, wann und wie?«
Pater Allán wartete einen Augenblick, als müsse er seine Gedanken sammeln, ehe er sprach.
»Bruder Moenach wurde ermordet. Vielleicht hast du schon von ihm gehört?«
»Wir sind hier viele Meilen von Kildare entfernt«, bemerkte Fidelma. »Warum hätte ich schon von diesem Bruder Moenach gehört haben sollen?«
»Er war ein so heiligmäßiger junger Mann.« Pater Allán seufzte. »Ja, wahrhaftig. Er zählte zwar erst achtzehn Lenze, aber er war durchdrungen von Weisheit, Poesie und Gesang. Sein Wesen war so heiter und ruhig, dass er sicherlich vom Lebendigen Gott gesegnet war. Seine Nächstenliebe und seine freundliche Natur waren ebenso berühmt wie seine musikalischen Fähigkeiten. Äbte und Stammesfürsten, sogar der König von Cashel, alle haben sich seiner musikalischen Begabung bedient, um Trost für ihre betrübten Gemüter zu finden.«
Fidelma schaute Pater Allán skeptisch an, während er die Tugenden Moenachs so begeistert pries.
»Bruder Moenach, ein achtzehnjähriger Mönch, wurde also umgebracht?«, fasste sie zusammen.
Der Vater Superior der Klostersiedlung nickte.
»Wann?«
»Es geschah vor einer Woche.«
Fidelma seufzte. Das bedeutete, dass es für sie nur noch wenige Anhaltspunkte gab. Und zweifellos hatte man Bruder Moenach schon vor Tagen in allen Ehren begraben. Doch sie hatte dem Abt von Lios Mór Mochuda versprochen, in dem Fall zu ermitteln. Die winzige Klostersiedlung unterstand nämlich seiner kirchlichen Rechtsprechung.
»Wie ist das Verbrechen geschehen?«
»Eine Frau aus dem Dorf, sie heißt Muirenn, hat ihn umgebracht. Wir haben sie eingesperrt, damit sie vor die Stammesfürsten geführt und auf dem schnellsten Wege …«
»Nicht ehe sie vor dem hiesigen Brehon ordentlich angehört wurde«, unterbrach ihn Fidelma. »Aber ich habe nach dem Wie gefragt, nicht nach dem Wer.«
Pater Allán runzelte die Stirn.
»Ich verstehe nicht ganz.«
»Schildere mir bitte den Hergang der Tat.«
»Eines Abends kam Bruder Aedo angerannt und suchte mich. Es war kurz vor der Vesper, wenn ich mich recht erinnere. Er brachte gerade Gemüse vom Dorf durch den Wald zum Kloster, als er bemerkte, dass sich zwischen den Bäumen etwas bewegte. Neugierig geworden, ging er der Sache nach. Zu seinem Entsetzen fand er dabei auf einer Lichtung die Leiche von Moenach. Daneben kniete eine alte Frau aus dem Dorf, Muirenn. Sie hielt einen Stein in der Hand. Daran klebte Blut, wie auch am Kopf von Moenach Blut war. Bruder Aedo rannte erschrocken fort und kam schnurstracks zu mir, um mir von dieser schrecklichen Angelegenheit zu berichten …«
»Rannte fort? Hast du nicht gesagt, dass Muirenn eine alte Frau ist? Was hat ihm denn da solche Angst eingejagt?«
Der Vater Superior fragte sich, ob Fidelma das sarkastisch meinte, war sich aber nicht sicher.
»Muirenn hat Aedo so bitterböse angeschaut, dass er um sein Leben fürchtete«, erklärte Pater Allán. »Wenn sie Moenach töten konnte, dann war doch auch Aedo in Gefahr.«
»Im Augenblick nehmt ihr hier also nur an, dass Muirenn die Täterin ist. Was geschah dann? Nachdem Aedo dir Bericht erstattet hatte?«
»Einige von uns gingen zu der Lichtung, wo er die Leiche gefunden hatte. Moenach lag noch immer da. Man hatte ihm von hinten den Schädel eingeschlagen. Neben ihm entdeckten wir einen blutbefleckten Stein, den Muirenn offensichtlich dort hatte fallen lassen. Wir jagten ihr hinterher und spürten sie auf, in ihrer Hütte im Dorf versteckt …«
»Versteckt? Warum hätte sie in ihr Dorf und ihre Hütte zurückkehren sollen? Sie wusste doch, dass man sie gesehen und erkannt hatte. Da wäre ihre Hütte wohl der letzte Ort, zu dem sie geeilt wäre. Und wie hatte sie sich verborgen? Hatte sie sich irgendwo in der Hütte verkrochen?«
Mit einem leisen, ärgerlichen Seufzer schüttelte Pater Allán den Kopf.
»Ich behaupte nicht, dass ich weiß, wie sie denkt. Jedenfalls haben wir sie in ihrer Hütte vorgefunden. Sie saß dort am Herd. Wir haben sie eingesperrt, damit du sie vor ihrer Anhörung durch den Brehon befragen kannst.«
»Dann hat sie sich wohl kaum ›versteckt‹, nach allem, was du mir erzählst«, meinte Fidelma ein wenig verächtlich. »Hat sie die Tat gestanden und einen Grund genannt, warum sie Moenach umgebracht hat?«
Der Vater Superior schniefte abfällig.
»Sie behauptet, überhaupt nichts von dem Mord zu wissen, obwohl wir einen Augenzeugen haben.«
»Einen Augenzeugen?« Fidelmas Stimme hatte eine gewisse Schärfe. »Wer ist denn euer Augenzeuge?«
Pater Allán litt sichtlich, so als hätte er es mit einem ein wenig begriffsstutzigen Schüler zu tun. »Nun, Bruder Aedo natürlich.«