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»Aber du hast mir doch eben gesagt, dass er nur gesehen hat, dass die alte Frau neben Moenach kniete und einen blutigen Stein in der Hand hielt. Also war er nicht Augenzeuge des eigentlichen Mordes.«

Pater Allán machte den Mund auf und wollte schon protestieren, bemerkte dann aber das wütende Funkeln in Fidelmas Augen … Waren sie grün oder hellblau? … Und er schwieg. Wenn Fidelma zornig war, schien aus ihren Augen ein seltsam eisiges Feuer zu sprühen.

»Ich behaupte ja nicht, ein Rechtsgelehrter zu sein«, erwiderte er trotzig. »Mit solchen Feinheiten kann ich mich nicht abgeben.«

»Der Gesetzestext des Berrad Airechta sagt klar und deutlich, dass jemand nur über das Zeugnis ablegen kann, was er oder sie gesehen oder gehört hat. Alles, was nicht vor den Augen eines Zeugen geschehen ist, kann nicht in Betracht gezogen werden. Auch Hörensagen darf nicht als Beweis vorgebracht werden.«

»Aber es war doch offensichtlich …«, begann Pater Allán.

»Ich bin hier, um mich mit Gesetzen und nicht mit Vermutungen zu befassen«, sagte Fidelma schroff. »Und als dálaigh würde ich dir raten, deine Worte sorgfältiger abzuwägen. Erzähle mir mehr von diesem … diesem angeblich beinahe heiligen Jüngling.«

Pater Allán fiel sehr wohl der leicht sarkastische Ton ihrer Stimme auf. Er zögerte kurz, fragte sich, ob er sie für ihren Spott tadeln sollte, entschloss sich aber, darüber hinwegzugehen.

»Er war der Sohn eines Stammesfürsten der Uí Figente. Er besaß eine seltene musikalische Begabung, spielte die cruit, als würde ein Engel die Harfe spielen. Seine Gedichte waren lieblich und rein. Mit gerade sieben Jahren wurde er unserer Obhut anvertraut. Letztes Jahr erreichte er das Alter der Wahl und entschied sich, als Mitglied unserer Gemeinschaft bei uns zu bleiben.«

»Er hatte also einen Ruf als Musiker?«

»Er wurde zu den Festen der Stammesfürsten und Äbte im Umkreis von vielen Meilen eingeladen«, erwiderte Pater Allán.

»Aber was für ein Mensch war er?«

»Ein angenehmer junger Mann. Freundlich, klug, rücksichtsvoll zu seinen Brüdern und zu allen, die ihn kennenlernten. Er hat sich immer alle erdenkliche Mühe gegeben, seinen Vorgesetzten zu Gefallen zu sein und ihren Bedürfnissen zu entsprechen. Ganz besonders liebte er Tiere und …«

»Er war also anscheinend über jegliche menschliche Schwäche erhaben?«

Pater Allán nahm diese Frage sehr ernst und schüttelte den Kopf. Fidelma erhob sich. Das Lächeln auf ihrem Gesicht wirkte ein wenig gezwungen. Pater Allán war so von der Erinnerung an die engelgleiche Erscheinung seines Schülers erfüllt, dass er ihr nun kaum noch weiter von Nutzen sein würde.

»Ich möchte jetzt mit Muirenn, der alten Frau, sprechen«, sagte sie. »Danach würde ich gern Bruder Aedo sehen.«

Nach einigem Zögern hievte sich der Vater Superior von der Mauer und bedeutete Fidelma, ihm zu einem der Gebäude der Klostersiedlung zu folgen.

Dort saß Muirenn in der Ecke einer Zelle auf der Kante der Pritsche, die man ihr zum Schlafen gegeben hatte. Sie schaute trotzig auf, als Fidelma eintrat. Sie war eine kleine, drahtige Frau mit wütenden dunklen Augen. Sie hatte das Kinn vorgereckt; ihr zerzaustes Haar war von grauen Strähnen durchzogen. Eine Greisin war sie noch lange nicht.

»Ich bin Fidelma, eine dálaigh am Gerichtshof«, verkündete Fidelma, als sie in den Raum trat. Sie hatte Pater Allán gebeten, sie mit der Gefangenen allein zu lassen.

Muirenn schnaubte verächtlich.

»Du bist gekommen, um mich für etwas zu bestrafen, das ich nicht getan habe«, knurrte sie, und in ihrer Stimme schwang Wut, nicht Furcht mit.

»Ich bin gekommen, um die Wahrheit zu ermitteln«, berichtigte Fidelma sie.

»Ihr jämmerlichen Ordensleute habt doch schon längst entschieden, was die Wahrheit ist. Du solltest dahin zurückkehren, wo du hergekommen bist, wenn du nur Alláns Vorurteile bestätigen willst.«

Fidelma setzte sich hin.

»Erzähle mir, was vorgefallen ist«, forderte sie die Frau auf. »Du bist aus dem Dorf unterhalb des Klosters?«

»Gott verfluche den Tag, an dem die Klosterbrüder hier zu bauen angefangen haben!«, murmelte die Frau.

»Ich habe erfahren, du bist Witwe? Du hast keine Kinder und hilfst dem Kräuterheiler im Dorf. Stimmt das?«

»Ja.«

»Dann erzähle mir, was vorgefallen ist.«

»Ich war im Wald und habe Pflanzen für Arzneien gesammelt. Da habe ich in der Nähe einen Schrei gehört. Ich bin sofort hingelaufen, um zu sehen, was ich tun konnte. Auf einer kleinen Lichtung lag ein junger Mönch mit dem Gesicht zum Boden. Auf der anderen Seite der Lichtung raschelte das Gebüsch, weil jemand davonlief. Ich dachte, ich könnte dem Jungen helfen. Ich kniete nieder und musste jedoch feststellen, dass es dafür schon zu spät war. Man hatte ihm den Schädel eingeschlagen. Ihm war nicht mehr zu helfen. Ohne zu überlegen, hob ich den Stein auf, der neben seinem Kopf lag. Er war mit Blut befleckt.

Da vernahm ich hinter mir einen Aufschrei. Ich drehte mich um und sah am Rand der Lichtung einen anderen Mönch stehen. Er starrte zu mir hin. Ich rappelte mich auf und rannte voller Schrecken nach Hause in meine Hütte.«

Fidelma zog fragend eine Augenbraue in die Höhe.

»Warum bist du erschrocken und weggerannt, als du den Mönch dort stehen sahst? Es wäre doch sicherlich besser gewesen, ihn um Hilfe zu bitten?«

Muirenn grummelte wütend.

»Ich bin davongelaufen, weil ich dachte, der Mörder sei zurückgekehrt.«

»Wie bist du darauf gekommen?«, fragte Fidelma. »Es war doch ein Mönch aus der Ordensgemeinschaft.«

»Genau. Als ich auf die Lichtung kam, sah ich, wie jemand durch die Büsche davonlief. Ich konnte einen Blick auf seinen Rücken erhaschen. Er trug eine braune Kutte. Moenach ist von einem Mitbruder aus seiner Gemeinschaft umgebracht worden. Ich habe ihn nicht getötet.«

Draußen vor der Zelle schaute Pater Allán Fidelma erwartungsvoll an.

»Möchtest du immer noch Bruder Aedo sprechen, oder hast du deine Untersuchung abgeschlossen?«

Hörte sie da einen gewissen Eifer aus seiner Stimme heraus? Er schien geradezu versessen darauf, dass sie einfach seine Vermutung bestätigte, Muirenn sei die Mörderin. Fidelma schürzte die Lippen und starrte ihn einen Augenblick lang an, ehe sie antwortete.

»Ich habe meine Untersuchung eben erst begonnen«, erwiderte sie leise. »Sag mir, wie viele Brüder leben in dieser Gemeinschaft?«

»Was hat das denn damit zu tun, dass …« Pater Allán biss sich auf die Zunge, als er sah, dass das zornige Feuer in ihren Augen wieder aufblitzte. »Insgesamt sind wir zehn Brüder.«

»Hatte Bruder Moenach Gefährten, Freunde, die ihm besonders nahestanden?«

»Wir sind alle Gefährten.« Der Vater Superior schniefte. »Gefährten im Dienste Christi.«

»War er bei allen in der Gemeinschaft wohlgelitten?«, fragte sie noch einmal.

»Natürlich«, erwiderte Pater Allán schroff. »Und warum auch nicht?«

Fidelma unterdrückte einen Seufzer.

»Hat man seine Zelle schon ausgeräumt?« Sie versuchte es auf eine andere Weise.

»Ich denke schon. Das müsste Bruder Ninnedo wissen. Er kümmert sich hier um den Garten.« Der Vater Superior deutete auf einen blonden jungen Mönch, der an der anderen Seite des Wiesenhangs einen Busch beschnitt. »Komm, ich werde …«

Fidelma hob abwehrend die Hand.

»Ich sehe ihn. Mach dir keine Mühe, Vater Superior. Ich spreche mit ihm. Ich komme zu dir zurück, wenn ich hier fertig bin. Lass bitte Bruder Aedo wissen, dass ich mit ihm reden möchte, nachdem ich mit Bruder Ninnedo gesprochen habe.«

Mit diesen Worten machte sie auf dem Absatz kehrt und ging auf den jungen Mann zu, der eifrig über seine Arbeit gebeugt war.