»Bruder Ninnedo?«
Der Mönch blickte auf. Er wirkte verlegen. Seine Augen huschten zu Pater Allán, dessen Gestalt sich hinter Fidelma rasch entfernte.
»Ich bin eine dál …«, begann Fidelma sich vorzustellen.
Ehe sie noch mit ihrer Erklärung fertig war, unterbrach sie der junge Mann.
»Du bist eine dálaigh, ich weiß. Wir erwarten dich schon seit einigen Tagen.«
»Gut. Und weißt du, warum ich hier bin?«
Der junge Mann nickte schlicht.
»Ich höre, dass du dir mit Bruder Moenach eine Zelle geteilt hast. Dann nehme ich an, dass du ihn gut kanntest?«
Fidelma war überrascht, als sie auf dem Gesicht des jungen Mönchs unverhohlenen Abscheu wahrnahm.
»Allerdings kannte ich ihn ziemlich gut.«
»Aber du mochtest ihn nicht?«, fragte sie schnell.
»Das habe ich nicht gesagt«, erwiderte Ninnedo vorsichtig.
»Das war auch nicht nötig. Warum hast du ihn nicht gemocht? Wenn man Pater Allán Glauben schenkt, war Bruder Moenach doch geradezu ein Heiliger.«
Ninnedo lachte bitter auf.
»Ich mochte ihn nicht, weil er ein übler Bursche war und nicht zur Arbeit im Weinberg des Herren taugte. Pater Allán konnte er vielleicht täuschen. Viele Leute vermochte er zu narren, die so selbstzufrieden sind, dass sie gar nicht merken, wenn ein widerlicher Speichellecker ihrer Eitelkeit mit voller Absicht schmeichelt. Doch Bruder Fogartach und ich, wir mussten die Zelle mit ihm teilen. Wir kannten seine üblen Machenschaften.«
Fidelma hatte den Kopf leicht zur Seite geneigt. Die Wut des jungen Mannes erstaunte sie ein wenig.
»Wie lange kanntest du ihn?«
»Wir sind zusammen als Pflegekinder hierhergekommen, Schwester. Das ist lange her.«
»Und du hast ihn immer gehasst?«
»Beinahe.«
»Dann sag mir doch, worin sich seine Bosheit ausdrückte? Du beschuldigst ihn, ein widerlicher Speichellecker gewesen zu sein. Nun, das sind wir alle in gewisser Weise, wenn wir denen schmeicheln, die über uns zu bestimmen haben. Das würde ich kaum Bosheit nennen.«
Ninnedo kaute auf seiner Unterlippe herum und überlegte einen Augenblick, ehe er weitersprach.
»Pater Allán behauptet, dass Moenach ein Heiliger war. Es würde mir nicht gut anstehen, wenn ich aufrichtig rede.«
»Jetzt sprichst du aber nicht mit Pater Allán, sondern mit einer dálaigh der Gerichtshöfe. Sag mir die Wahrheit und nichts als die Wahrheit, und du wirst belohnt.«
Ninnedo wand sich verlegen.
»Nun gut, Schwester. Moenach war ein Lügner, ein Dieb und ein Lüstling.«
Fidelma sah ihn fragend an.
»Wenn das stimmt, wie konnte er derlei Laster vor Pater Allán verbergen?«
»Er sah aus wie ein Engel und konnte hervorragend Süßholz raspeln, wenn es sein musste. Oft sehen die Menschen nur die äußere Gestalt. Und er konnte wundersam süße Musik machen. Er vermochte die Leute zu täuschen. Aber ab und zu blitzte sein wahres Wesen hinter dieser Unschuldsmaske hervor. Er war ein Bösewicht.«
»Kannst du dafür Beweise erbringen? Hörensagen ist nach dem Gesetz vor Gericht nicht zugelassen.«
»Beweise? Er stahl alles, wonach ihm der Sinn stand. Er hat mich und Bruder Nath bestohlen. In unserer Gemeinschaft lebte bis vor wenigen Monaten ein Bruder namens Follamon. Moenach hatte sein begehrliches Auge auf einen mit Edelsteinen besetzten Becher geworfen, der Pater Allán gehörte. Er vermochte seine Begierde nicht zu zügeln und stahl ihn. Pater Allán begann eine gründliche Suche nach dem verschwundenen Becher. Moenach wurde klar, dass man ihm diesen Diebstahl nicht würde durchgehen lassen. Also schob er den Becher Bruder Follamon unter. Er verbarg ihn in dessen Bett, sodass man ihn dort fand und dem anderen die Schuld gab.«
»Was geschah dann?«
»Pater Allán ließ Follamon aus der Gemeinschaft ausstoßen.«
»Warum wurde denn Moenachs Tat dem Pater nicht gemeldet? Wenn du es wusstest und Bruder Nath es wusste, warum hat euch Pater Allán dann nicht geglaubt?«
Wieder lachte Ninnedo. Aber sein Lachen klang bitter.
»Dir ist nicht klar, wie tief der Glaube an Moenach in den Gedanken des guten Paters verwurzelt war. Nath erzählte es ihm, denn Nath wusste, was geschehen war. Da beschuldigte Pater Allán ihn einfach, nur neidisch zu sein, und drohte sogar, er würde auch ihn aus der Gemeinschaft ausstoßen.«
»Aber Moenach konnte doch seine Stellung nicht nur halten, weil Pater Allán für ihn voreingenommen war? Es müssen doch auch andere der gleichen Meinung wie der Pater gewesen sein?«
Ninnedo schniefte verächtlich.
»O ja. Moenach hat einige Brüder an der Nase herumgeführt. Diesen Narren Aedo zum Beispiel.«
»Aedo, der die Leiche entdeckte, als Muirenn neben ihr kniete?«
»Genau der. Er war so erschüttert und vom Schmerz gebeugt, dass er, nachdem er hier angekommen war und uns die Nachricht gebracht hatte, mehrere Tage im Bett bleiben musste.«
»Ach ja? Aedo hat also Pater Allán und die anderen Brüder nicht auf der Suche nach Muirenn begleitet?«
»Nein.«
»Hat Moenach außer einigen Klosterbrüdern noch andere Menschen getäuscht?«
»Er hatte den gleichen Einfluss bei einigen Stammesfürsten und sogar Äbten in der Gegend.«
»Aber du und Nath, ihr hieltet ihn für einen Bösewicht?«
»Wir kannten seine Machenschaften, Schwester. Ja, es schien ihm sogar Vergnügen zu bereiten, dass wir darum wussten, wie er den Vater Superior täuschte. Er forderte uns manchmal heraus, wir sollten ihn doch anschwärzen. Er wusste ja genau, dass uns niemand Glauben schenken würde.«
»Hast du denn Bruder Nath nicht gegen Pater Allán den Rücken gestärkt?«
»Das hat ihm überhaupt nichts genützt«, meinte Ninnedo verächtlich.
Man hörte in der Ferne eine Glocke läuten.
»Ich muss gehen«, sagte Ninnedo und entfernte sich rasch.
Einen Augenblick lang schaute Fidelma ihm nachdenklich hinterher. Dann machte sie sich auf die Suche nach Pater Allán.
»Du hast mir nicht erzählt, dass nicht alle hier Moenach mochten.«
Der Vater Superior starrte sie wütend an.
»Wer hat ihn denn nicht leiden können?«, wollte er wissen. »Ninnedo, nehme ich an?«
»Ich spreche auch von Bruder Nath.«
»Nath!« Pater Allán blieb vor Staunen der Mund offen stehen. »Also hat Ninnedo dir von dieser Angelegenheit erzählt?«
Fidelma antwortete nicht.
»Schwester Fidelma, du weißt so gut wie ich, dass wir trotz unserer Gelübde und trotz unseres Lebens im Dienst des Lebendigen Gottes nicht plötzlich übermenschliche Kräfte entwickeln, dass wir nicht unfehlbar werden.«
»Was soll das heißen?«
»Dass ich natürlich von den Anschuldigungen weiß, die Nath und Ninnedo erheben. Ich kenne die beiden seit vielen Jahren, seit sie zusammen mit Moenach als Zöglinge hierhergekommen sind. Sie sind zusammen aufgewachsen, aber so wie manchmal Männer eine unergründliche Abneigung gegeneinander entwickeln, so geschieht das auch bei Jungen. Mir war immer klar, wie neidisch sie auf Moenach waren und wie sehr sie ihn hassten.«
»Ja? Und was hieltest du für den Grund?«
»Wer weiß? Wenn ein Junge so begabt und engelrein ist wie Moenach, dann hat er viele Feinde.«
»Und bist du dir sicher, dass die Anschuldigungen der beiden jeglicher Grundlage entbehrten?«
»Ich kenne Moenach seit seinem siebten Lebensjahr. Er war über jeden Vorwurf erhaben.«
»Obwohl du vorhin zugegeben hast, dass keiner von uns unfehlbar ist?« Fidelma konnte sich diese sarkastische Bemerkung nicht verkneifen.
Doch Pater Allán ging ihr nicht auf den Leim.
»Moenach war ein ganz besonderer Mensch. Es hat mich sehr geschmerzt, mit anzusehen, wie eifersüchtig Nath auf ihn war.«
»Ich möchte mit Bruder Nath sprechen.«