»Die Wunde stammt nicht von einem Messer«, erklärte Eblenn entschieden.
Vergeblich wartete Fidelma auf eine ergänzende Bemerkung und fragte schließlich ungehalten: »Wovon dann?«
Die Apothekerin zeigte auf den Tisch. Da lag ein zerbrochener Pfeil. Es war die vordere Hälfte eines Pfeils; ungefähr neun Zoll Schaftlänge und die Spitze. An der Bruchstelle war der Schaft gesplittert.
Fidelma nahm das Stück in die Hand und betrachtete es näher. Es war blutverschmiert; man konnte schlussfolgern, dass Schwester Eblenn es aus der Wunde gezogen hatte.
»Willst du damit sagen, man hätte Illan mit dem Pfeil hier ins Herz gestochen?«, mischte sich Abt Laisran ein. »Erstochen, hast du gesagt, nicht mit dem Pfeil erschossen?«
Schmollend verzog sie den Mund und sah ihn verdrossen an. »Du hast es doch gehört.«
»Bisher hast du überhaupt nichts erklärt«, wies Fidelma sie zurecht. »Berichte, was genau du festgestellt hast, und halte dich an die Tatsachen.«
Eblenn war es nicht gewohnt, dass man sie befragte. Sie setzte bei anderen das Wissen um die Dinge voraus und verstand es nicht, sich klar und eindeutig auszudrücken. Gerügt zu werden war ihr fremd.
»Der Tote erfuhr einen Stich ins Herz.« Sie sprach langsam und deutlich, ohne innere Anteilnahme, wie ein Kind, das gelangweilt – nach Offensichtlichem befragt – die verlangte Erklärung abgibt. »Der Stich erfolgte mit dem Pfeil hier. Der Täter hat mit dem Pfeil unterhalb des Rippenbogens zugestoßen, genau am Brustbein vorbei, hat mit der nötigen Kraft die Pfeilspitze nach oben und ins Herz getrieben. Der Tod erfolgte unmittelbar. Geblutet hat es so gut wie gar nicht.«
»Aus welchen Erwägungen heraus sprichst du nicht davon, dass der Pfeil abgeschossen wurde?«, fragte Abt Laisran erneut.
»Bei dem Einstichwinkel, wie er sich uns darbietet, hätte der Bogenschütze fünf Fuß entfernt und mindestens fünf Fuß tiefer als das Opfer stehen müssen, um in einem Winkel von fünfundvierzig Grad schräg nach oben schießen zu können. Außerdem ist der Pfeil entzweigebrochen. Ich vermute, der Schaft hat der Kraft, mit der zugestoßen wurde, und der festen Umklammerung durch die Hand des Angreifers nicht standhalten können.«
»Demnach hast du die Pfeilspitze regelrecht herausschneiden müssen?«
Kopfschüttelnd widerlegte sie die Vermutung.
»Die Pfeilspitze ist Teil des Schafts, das Holz vorne lediglich zugespitzt. Ich musste nichts herausschneiden, brauchte den Pfeil nur herauszuziehen. So, wie er hineinging, ging er auch wieder heraus. Es war ganz leicht.«
Im Stillen war Fidelma leicht verzweifelt.
»Schon als du herkamst, um den Leichnam zu untersuchen, war der Pfeil entzwei? Die eine Hälfte steckte im Körper, die andere … Wo war die eigentlich?«
Schwester Eblenn schreckte auf und schaute sich um, als würde ihr das helfen, die Antwort zu finden.
»Das weiß ich nicht; sie müsste hier irgendwo liegen.«
An Fidelma zerrte die Ungeduld. Aus Schwester Eblenn etwas herauszukriegen war wie Forellenangeln. Man musste die Angel aufs Geratewohl auswerfen. Sinnend betrachtete sie die Pfeilspitze. Wie aus der Ferne hörte sie Eblenn etwas sagen.
»Was?«
»Ich muss zurück in mein Apothekerzelt. Der eine Diebstahl heute früh hat mir gereicht, und man weiß ja, Gelegenheit macht Diebe.«
Im Nu war Fidelma hellwach. »Was hat man aus deinem Zelt entwendet?«
»Ach, nur ein paar Kräuter. Aber auch die kosten Geld.«
»Die paar Kräuter – waren das Alraune, Eisenhut und zerstoßener Efeu?«
»Oh, du hast wohl mit Lady Dagháin gesprochen?«
Fidelma stutzte. »Was hat Lady Dagháin damit zu tun?«
»Nichts. Sie kam nur gerade an meinem Zelt vorbei, als ich den Diebstahl entdeckt hatte. Ich bat sie, ihren Mann in Kenntnis zu setzen, der als tánaiste für die königlichen Wachen verantwortlich ist.«
»Wann genau war das?«
»Zur Frühstückszeit. Heute Morgen. Zuvor hatte Königin Muadnat bei mir hereingeschaut, sie wünschte Balsam gegen Kopfschmerz. Kurze Zeit darauf merkte ich, dass die Kräuter fehlten. Als ich dann zum Frühstück gehen wollte, sah ich Lady Dagháin und sagte es ihr.«
Damit verließ sie Schwester Eblenn. Laisran, dem immer noch seine Verwirrung anzumerken war, stellte zufrieden fest: »Wenigstens wissen wir jetzt, woher der Täter das Gift hatte.«
Fidelma nickte geistesabwesend. Sie ging auf die Knie, begann, die Leiche näher zu untersuchen und winkte dann Laisran zu sich heran.
»Schau dir mal die Wunde an, Laisran. Ich habe den Eindruck, Schwester Eblenn mangelt es an Gründlichkeit.«
Nachdem Laisran die Wunde eingehend beäugt hatte, kam auch er zu der Erkenntnis: »Von einer Pfeilspitze stammt die nicht. Sie ist mehr wie ein klaffender Schlitz, könnte eher von einem Messer mit breiter Klinge stammen.«
»Genau der Meinung bin ich auch.«
Sorgsam suchte sie den Erdboden ab, fing bei dem Leichnam an und zog immer größere Kreise. Aber bis auf eine cena aus Leder, einen Beutel mittlerer Größe, fand sie nichts. Sie legte ihn auf den Tisch. Was sie zu finden gehofft hatte, konnte sie nirgends entdecken. Unverrichteter Dinge stand sie wieder auf. Sie nahm das abgesplitterte Pfeilstück, drehte es ratlos hin und her und steckte es in ihr marsupium, die Gürteltasche, die sie stets bei sich trug.
Schließlich warf sie einen letzten Blick auf Illan. Laisran hatte recht – er war ein hübscher junger Mann gewesen. Doch sein Antlitz war ein wenig zu schön, als dass es sie gereizt hätte. Sie konnte sich gut vorstellen, wie selbstgefällig und von sich überzeugt er sich zu Lebzeiten gegeben hatte.
Mit einem Hüsteln machte Abt Laisran auf sich aufmerksam.
»Hast du schon irgendwelche Vorstellungen?«
Sie lächelte ihren alten Mentor an. »Jedenfalls keine, die Sinn machen.«
»Während du mit dem Leichnam beschäftigt warst, habe ich mir den kleinen Beutel, den du in der Zeltecke gefunden hast, etwas näher angesehen. Du solltest auch mal hineinschauen.«
Stirnrunzelnd folgte sie seinem Rat und beförderte eine Kräutermischung ans Tageslicht. Argwöhnisch schnupperte sie daran.
»Ist das wirklich, was ich vermute?«, fragte sie Laisran mit großen Augen.
»Ja. Alraune, Eisenhut und Efeublätter. Nicht nur das, auf der cena ist auch ein kleines Zeichen, aber ein anderes, als ich auf der Apothekertasche von Schwester Eblenn gesehen habe.«
Beinahe hätte Fidelma gepfiffen, aber sie beließ es bei der Lippenbewegung.
»Das gibt uns ein neues Rätsel auf, Laisran. Wir müssen herausfinden, zu wem das Wappen gehört.«
Völlig unerwartet betrat Énna das Zelt.
»Ah, da bist du ja, Schwester. Hast du hier genug gesehen?«
»Was zu sehen war, habe ich gesehen«, erwiderte sie.
Sie wies auf den Leichnam. »Ein trauriges Ende für einen, der so jung und talentiert war.«
»Manch ein Ehemann ist da anderer Meinung, Schwester«, meinte er hämisch.
»Denkst du an die Königin?« Laisran erwehrte sich nicht eines Lächelns.
Peinlich berührt zuckte Énna zusammen. Von Muadnats Affären wussten viele, aber niemand am Hof verlor ein Wort darüber.
»Du wirst jetzt gewiss Bischof Bressal aufsuchen?«, wandte er sich an Fidelma. »Er ist schon etwas ungehalten, dass du nicht als Erstes zu ihm gegangen bist.«
Fidelma hielt sich mit einer Entgegnung zurück.
»Bevor wir das tun, brauche ich deine Hilfe Énna«, sagte sie stattdessen. »Als tánaiste kennst du dich doch sicher mit Wappen und Stammeszeichen aus.«
Er machte eine zustimmende Geste.
»Was für ein Zeichen ist das hier?« Sie hielt ihm den Beutel hin, den sie gefunden hatten.
»Das sind die Insignien aus dem Hause des Bischofs Bressal«, erwiderte Énna ohne Zögern.