»Das gilt aber nur, wenn eine Frau unter den angedeuteten Umständen dem Opfer eine nicht tödliche Verletzung beigebracht hat, nur dann wäre sie nicht haftbar. Wenn es zu unbeherrschten Handlungen aufgrund leidenschaftlicher Erregung kommt, zeigt das Gesetz Milde. Führt die Handlung jedoch zum Tod, muss sie Sühnegeld für den Getöteten zahlen. Von jeder anderen Form der Bestrafung würde man absehen.«
»Weshalb sollte dann, wenn es tatsächlich an dem ist, die Frau ihre Tat verheimlichen wollen? Verheimlichung zieht doch nur eine größere Bestrafung nach sich.« Wieder war es Énna, der die Frage stellte.
»Weil zwei unterschiedliche Täter am Werk waren, und die Tat des einen den anderen verlockte, sie für seine eigenen Absichten zu nutzen.«
»Es fällt mir schwer, dir zu folgen. Wer hat nun Illan getötet?«, wollte Fáelán wissen und blickte mit zwiespältigen Gefühlen zu seiner Frau. »Nach deinen Worten war es eine Frau. Ihr Versuch, die Tat zu verbergen, würde ohne Rücksicht auf ihren Rang und Namen dazu führen, dass man sie im Falle des Schuldbeweises in einem Boot auf dem Meer aussetzen und sie mit nur einem Paddel und ein wenig Nahrung ihrem Schicksal überlassen würde. Schwester Fidelma«, fragte er schließlich mit gebrochener Stimme, »ist es Muadnat, von der du sprichst?«
Seine Frau erstarrte, während Fidelma sich mit einer Antwort zurückhielt. Stattdessen holte sie aus ihrem marsupium einen Gürtel hervor, an dem ein mit Edelsteinen besetztes Futteral hing. Darin steckte ein kleiner Dolch. Sie zog den Dolch heraus und reichte ihn Muadnat.
»Ist das dein Dolch?«, fragte sie.
»Ja, es ist meiner«, erwiderte Muadnat finster.
Entsetzt hielt Fáelán den Atem an, seine schlimmsten Befürchtungen schienen sich zu bestätigen.
»Dann …?«, hub er fassungslos an, doch Fidelma schüttelte den Kopf.
»Nein. Dagháin hat Illan getötet.«
Die Offenbarung löste in der Runde lautes Erschrecken aus, und alle Blicke gingen zu Énnas Frau, der das Blut in die Wangen schoss. Einen Moment saß sie wie betäubt da, ehe sie sich langsam, fast traumwandlerisch erhob. Suchend schaute sie um sich, und dann brach es aus ihr heraus: »Lügnerin! Verräterin!«
Fidelma nahm den Ausbruch befriedigt zur Kenntnis.
Dagháin wurde heftiger, tobte und fluchte auf eine Art und Weise, die jeden der Anwesenden von ihrer Schuld überzeugte. Énna war auf seinem Stuhl zusammengesackt, unfähig, ins Geschehen einzugreifen.
Nachdem Dagháin in Gewahrsam gebracht worden war, überfielen die anderen Fidelma mit Fragen. Nur mit Mühe konnte sie sich Gehör verschaffen.
»Bereits am frühen Morgen hatte man Dagháin zur Rennbahn kommen sehen. Schwester Eblenn, die Apothekerin, hatte mit ihr gesprochen, kurz nachdem sie bestohlen worden war, ziemlich bald nach dem Frühstück. Folglich hatte Dagháin gelogen, als sie behauptete, heute Morgen später zur Rennstrecke gekommen zu sein. Ihr Lügen erregte meinen Verdacht. Der Verdacht erhärtete sich, als ich feststellte, dass nicht der Pfeil das Mordwerkzeug war, sondern die Wunde von einem Dolch stammte. Als ich das erste Mal vor Fáelán trat, trug Muadnat zwar die übliche Dolchscheide, aber die war leer.«
»Das verstehe ich nicht. Was du eben beschrieben hast, würde doch den Verdacht auf Muadnat richten.«
»Ich gebe zu, dass ich das auch eine Weile gedacht habe. Aber ich traute meiner Beobachtungsgabe: der Dolch, den ich in Dagháins Gürtelgehänge gesehen hatte, passte nicht recht hinein, er war zu klein. Das verlangte eine Erklärung. Ich kam dahinter, dass sie irgendwann den Dolch von Muadnat gegriffen haben musste. Habe ich recht?«
Muadnat sprach leise. »Sie wollte zur Beruhigung ihrer Nerven einen Apfel und bat mich, ihr meinen Dolch zu leihen, sie hätte ihren irgendwo verlegt. Ich habe vorhin erst bemerkt, dass sie ihn mir nicht zurückgegeben hatte.«
»Bei ihrer Schilderung, in welchem Zustand sie Illan gefunden hat«, fuhr Fidelma fort, »hieß es, sie sei geradewegs zu Énna gerannt, um ihm von dem eben Erlebten zu berichten. Andere haben jedoch beobachtet, dass sie von seinem Zelt direkt zu dem ihrigen gelaufen ist. Ich habe vorhin erst ihr Zelt durchsucht. Ich hatte Glück, denn sie hatte ihren Gürtel mit dem Futteral achtlos abgeworfen. Mein Verdacht, dass der Dolch nicht ihrer, sondern der von Muadnat war, bestätigte sich.«
»Wo war dann aber Dagháins Dolch?«, fragte Laisran gespannt.
»Ich habe ihn da gefunden, wo ich ihn vermutete: in Angaires Satteltasche; an der Klinge haftete noch Illans Blut.«
Mit einem jähen Aufschrei sprang Angaire zum Zelteingang, wurde aber von einem Krieger aus des Königs Leibgarde mit gezogenem Schwert zum Stehen gebracht. Ohne den Zwischenfall zu beachten, sprach Fidelma weiter.
»Angaire hat nicht Illan getötet, wohl aber Aonbharr vergiftet und dann versucht, Bressal als Verursacher beider Schandtaten hinzustellen, indem er den Pfeil und den Beutel als Beweismaterial an Ort und Stelle gelassen hat. Mit seiner Handlungsweise hat er die Spur von Illans wahrem Mörder verwischt. Er wusste, dass Bressal sich von ihm trennen wollte. Darüber habe ich bereits gesprochen. Bressal hatte es ihm in aller Deutlichkeit gesagt. Auch wenn Illan es abgelehnt hatte, wieder in Bressals Dienste zu treten, so waren Angaires Tage als Betreuer seines Rennpferdes doch gezählt.
Nach meinem Empfinden schwebte Angaire bereits vor, wie er Bressal Schaden zufügen würde. Ich glaube, seine ursprüngliche Absicht war, Ochain zu vergiften, und deshalb entwendete er früh am Morgen giftige Kräuter aus Schwester Eblenns Zelt. Dann nahm das Schicksal seinen Lauf. Er hörte zufällig den Streit zwischen Bressal und Illan, ohne dass er sich zu dem Zeitpunkt die Dinge im Einzelnen schon zurechtgelegt hatte.
Der Gedanke reifte wohl erst, als er wenig später mit Murchad und Sílán zusammenstand und sah, wie Dagháin aus Illans Zelt hastete. Ihr Kleid war in Unordnung, auch fehlte der zu ihrer Aufmachung gehörende Dolch. Sie strebte ihrem eigenen Zelt zu. Ohne weiter darüber nachzudenken, ließ er eine anzügliche Bemerkung fallen. Sílán und Murchad gingen. In dem Moment, vielleicht auch schon kurz zuvor, blitzte in ihm der Gedanke auf, er könnte mit seiner unbedachten Bemerkung gar nicht so falsch gelegen haben, was wenn … Und warum fehlte der Dolch?
Er ging in Illans Zelt und sah Dagháins Dolch in dessen Brust stecken. Sein ungutes Gefühl hatte ihn nicht getrogen. Er zog die Mordwaffe heraus, und ein bisher vager Gedanke nahm Gestalt an. Hier bot sich ihm die Gelegenheit, mit Bressal abzurechnen und sich einen einträglichen Posten in Dagháins Diensten zu sichern. Er eilte zu ihrem Zelt, zeigte ihr den Dolch und benutzte ihn als Druckmittel gegen sie. Er überredete sie, noch eine Weile zu warten, ehe sie zu ihrem Mann ging, dem sie dann die Geschichte erzählen sollte, die sie auch uns vorgegaukelt hat. Sie hätte Illan in seinem Zelt aufgesucht, weil ihr aufgefallen war, dass mit Aonbharr etwas nicht stimmte. Diese Auskunft war eine Zutat von Angaire, sie war eine glaubhafte Erklärung und zugleich ein wesentliches Teilstück seines verbrecherischen Vorhabens.
Von Dagháin lief er zu Bressals Zelt, entwendete aus Síláns Köcher einen Pfeil, brach ihn in zwei Teile und steckte das hintere Ende wieder zurück. Mit dem vorderen Ende und seinem Beutel, der die giftige Kräutermischung enthielt, lief er zurück und machte sich ans Werk. Eine beträchtliche Menge des giftigen Zeugs verfütterte er an Aonbharr. Danach begab er sich in Illans Zelt, bohrte die Pfeilspitze in die offene Wunde und ließ den Beutel mit den restlichen Kräutern gut sichtbar liegen. Die irreführende Spur war gelegt.
Wie ihr seht, haben wir es mit zwei ursprünglich voneinander unabhängigen Tätern zu tun, die sich zu einem großen Verbrechen zusammentaten. Wer von den beiden hat nun die größere Schuld auf sich geladen? Dagháin, eine bemitleidenswerte, abgewiesene Frau, oder Angaire, ein untergeordneter, aber rachsüchtiger Mann, der mit seiner Boshaftigkeit beinahe ein noch größeres Unheil heraufbeschworen hätte? Eins will ich dir nicht vorenthalten, Fáelán. Wenn es so weit ist, dass Dagháins Fall vor Gericht verhandelt wird, möchte ich sie als Anwältin vertreten.«