»Was suchst du hier?«, schnauzte er grob.
Fidelma schaute gereizt auf ihn herab. »Ist das die Stammesfestung der Uí Dróna?«
Der Mann bestätigte es mit einem Kopfnicken.
»Dann begehre ich Einlass.«
»Was führt dich her?«
»Das ist meine Sache.« Ihre Stimme war ruhig, aber entschieden.
»Ich bin Conn, tánaiste der Uí Dróna. Es ist meines Amtes, zu erfahren, weshalb du Einlass begehrst«, erwiderte er keineswegs zurückhaltend.
Die Reiterin blieb unbeeindruckt. »Ich bin gekommen, um Liadin zu besuchen. Ich bin Fidelma von Kildare.«
Sie nahm wahr, wie sich die Miene des Mannes für einen Augenblick änderte. Dabei hatte sie das seltsame Gefühl, er schien erleichtert, doch die Regung schwand, ehe sie sich dessen noch sicher sein konnte. Der tánaiste streckte sich.
»Ich bedauere, Schwester. Liadin wird eben jetzt, während wir miteinander sprechen, von Brehon Rathend vernommen.«
Überraschung malte sich auf Fidelmas Zügen. »Sie wird vernommen? Willst du damit sagen, sie muss sich in einem Gerichtsverfahren vor dem Brehon verantworten?«
Der tánaiste zögerte. »In gewisser Weise schon. Sie beteuert ihre Unschuld.«
»Ihre Unschuld? Welcher Straftat bezichtigt man sie?«
»Liadin ist angeklagt, ihren Mann Scoriath vom Stamme der Fir Morc und ihren Sohn ermordet zu haben.«
Brehon Rathend war schlank und dürr, mit bleicher, wie blutleer wirkender Haut. Der Richter hatte tiefliegende Augen mit Tränensäcken; das gab ihm das Aussehen eines Menschen, der zu wenig Schlaf fand. Die scharfen Gesichtszüge ließen darauf schließen, dass er kaum Sinn für Humor hatte. Insgesamt machte er einen kränklichen und missmutigen Eindruck.
»Woher nimmst du dir die Freiheit, diesen Prozess zu unterbrechen, Schwester?«, fragte er mürrisch, kaum dass er den Raum betrat, in den man Fidelma geführt hatte. Sie hätte den Rang einer dálaigh, erklärte sie ihm und verlangte zu wissen: »Wird Liadin von den Uí Dróna von einem Anwalt vertreten?«
»Nein«, entgegnete er. »Sie lehnt eine Verteidigung ab.«
»Dann werde ich sie in diesem Verfahren verteidigen. Ich fordere eine Vertagung der Anhörung um vierundzwanzig Stunden, um mich mit meiner Mandantin zu beraten …«
Rathend war unentschlossen. »Das dürfte schwierig sein. Woher willst du überhaupt wissen, ob sie dich als Anwältin möchte?«
Herausfordernd sah Fidelma den Brehon an. Rathend war bemüht, ihrem Blick standzuhalten, senkte dann aber den Kopf.
»Selbst wenn sie dich als Anwältin annimmt – ich gebe zu bedenken, dass man zur Eröffnung des Verfahrens und der Verlesung der Anklage bereits versammelt ist«, erklärte er lahm.
»Der Zweck eines Gerichtsverfahrens ist, Gerechtigkeit walten zu lassen, nicht eine Zuschauerschar zu befriedigen. Das Gesetz gestattet den Aufschub einer Anhörung.«
Die fahlen Wangen des Richters verfärbten sich leicht. Er setzte zu einer Erwiderung an, als die Tür aufgerissen wurde und eine junge Frau hereinkam. Trotz ihrer Adlernase und blässlichen Hautfarbe war sie eine gutaussehende Erscheinung. Ihre dunklen Augen blitzten lebhaft, und das schwarze Haar gab ihr etwas Fremdländisches. Offensichtlich war sie eine Frau von Rang und Namen.
»Was hat diese Unterbrechung des Verfahrens zu bedeuten, Rathend?« Sie erspähte Fidelma und schöpfte Verdacht. »Wer ist das da?«
»Schwester Fidelma ist Anwältin und gekommen, um Liadin in dem Prozess zu verteidigen«, erklärte Rathend unterwürfig.
Unmut trieb der Frau die Röte ins Gesicht. »Da kommst du leider zu spät, Schwester.«
Gelassen ließ Fidelma ihren Blick über die hochmütigen Züge der Streitsüchtigen gleiten.
»Und du bist …«, fragte sie leise und erinnerte Rathend daran, dass er die Etikette verletzt hatte, woraufhin die Frau erst recht rot wurde.
»Das ist Irnan, die Stammesfürstin der Uí Dróna«, beeilte sich der Richter zu sagen. »Du befindest dich in ihrem rath.«
Um Fidelmas Mundwinkel spielte ein Lächeln, sie neigte das Haupt, mehr als Würdigung des Rangs ihres Gegenübers denn aus Ehrerbietung.
»Ob ich nun zu spät oder zu früh gekommen bin, Irnan, Stammesfürstin der Uí Dróna, spielt keine Rolle. Entscheidend ist, dass ich jetzt hier bin und dazu beitragen werde, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wird.« Sie wandte sich wieder Rathend zu. »Um mich auf Liadins Verteidigung einzustellen, muss ich die Möglichkeit haben, sie anzuhören. Deshalb benötige ich einen Aufschub der Eröffnung des Verfahrens um vierundzwanzig Stunden.«
»Verteidigung?« Klang da blanker Hohn in Irnans Zwischenruf? »Wie kann man dieses Weib verteidigen?«
Fidelma würdigte sie kaum eines Blickes. »Ich werde dem Gericht mitteilen, dass ich die Verteidigung übernehme, sobald ich mit Liadin habe sprechen können.«
»Der Fall ist doch völlig klar«, warf Irnan hin. »Liadin hat ihren Mann ermordet und dann noch ihren Sohn.«
»Was für einen Grund sollte sie dafür gehabt haben?«, fragte Fidelma unbeirrt.
»Sie lebten in einer arrangierten Ehe. Vielleicht hat Liadin Scoriath gehasst? Wer weiß?«, giftete die Stammesfürstin.
»Das kann als Grund kaum gelten. Sie hätte Zuflucht zum Gesetz nehmen und sich scheiden lassen können. Und warum soll sie das Kind ermordet haben? Welche Mutter tötet schon ihr eigenes Kind? Und warum mordet sie erst nach dreieinhalb Jahren im Aufbegehren gegen eine Zwangsehe, wie du es nennst?«
Irnans Augen funkelten wütend. Der Ton, in dem sie Fidelma antwortete, war der Ton einer Herrscherin, die keinen Widerspruch duldete. »Nicht ich stehe hier vor Gericht, Schwester. Bilde dir nicht ein, dass ich deine Fragen beantworte.«
»Jemand wird sie aber beantworten müssen«, erklärte Fidelma ruhig und erkundigte sich bei dem Richter: »Wirst du also die Vertagung genehmigen?«
Rathend schien sich bei Irnan vergewissern zu wollen, ehe er antwortete. Aus dem Augenwinkel sah Fidelma, dass die Fürstin die Achseln zuckte. Mit einem Seufzer nickte er zustimmend.
»Gut, Schwester. Du hast vierundzwanzig Stunden, dann tritt das Gericht zusammen. Ich warne dich, die Anklage lautet auf fingal, Ermordung nächster Angehöriger. Sie ist in diesem Falle derart schwerwiegend, dass es nicht auf eine Wiedergutmachung in Form des üblichen Sühnegelds hinauslaufen kann. Wenn Liadin schuldig gesprochen wird, dann wird man sie, weil sie ein so grässliches Verbrechen begangen hat, in einem offenen Boot auf hoher See ohne Ruder, Segel, Nahrung oder Wasser aussetzen. Sollte sie überleben und nach Gottes Willen irgendwo an Land geworfen werden, dann kann jeder, der sie findet, über ihr Leben oder ihren Tod bestimmen. Das ist der in den Gesetzen vorgeschriebene Urteilsspruch.«
Schwester Fidelma kannte die Strafe sehr wohl, die für kapitale Mordfälle vorgesehen war. »Doch nur, wenn sie schuldig gesprochen wird«, wiederholte sie verhalten.
Irnan lachte schallend auf. »Was mit Sicherheit der Fall sein dürfte«, höhnte sie und stürmte hinaus. Verunsichert und bekümmert schaute ihr der Richter hinterher.
Die beiden Frauen lösten sich aus ihrer Umarmung. Besorgt schaute Fidelma ihre Freundin an. Liadin war schmächtiger als Fidelma, hatte dichtes kastanienbraunes Haar und bleiche Haut. Ihre dunkelbraunen Augen wirkten von weitem fast schwarz. Sie sah angestrengt aus und hatte Ringe unter den Augen; ihr Gesicht war fast blutleer und von scharfen Falten gezeichnet.
»Fidelma! Gelobt seien alle Heiligen, dass du endlich gekommen bist. Ich hatte schon jede Hoffnung aufgegeben. Glaub mir, ich habe weder Scoriath noch meinen Sohn Cunobel umgebracht.«