»Scoriath hat hier gelegen. Das Kind haben wir da an der Tür zur Nebenkammer gefunden«, erläuterte Rathend.
Fidelma bemerkte die dunkle Spur auf dem Fußboden, die zum überwölbten Durchgang in das kleinere Gelass führte. Neben der Schwelle war ein etwas größerer Blutfleck. Sie folgte Rathend in den Nebenraum. Im Schein der Kerze, die er hochhielt, sah sie, dass die Blutspur bis zu einer großen Holztruhe führte, wie Conn es geschildert hatte. Ihr fielen größere Fußspuren in dem getrockneten Blut auf; offenbar hatte Conn sie bei der Durchsuchung des Tatorts hinterlassen und damit die eigentlichen Spuren des Mörders überdeckt.
»Das ist die Truhe, in der Liadins blutbeflecktes Kleid und das Messer gefunden wurden«, bedeutete ihr der Brehon. »Neben der Truhe steht das Kinderbettchen. Dort sind keine Blutflecken, sodass wir schließen können, der Junge wurde da erstochen, wo wir ihn fanden.«
Fidelma erwiderte nichts, ging zur größeren Schlafkammer zurück und sah sich darin um.
»Suchst du etwas Bestimmtes, Schwester?«
»Ich weiß es selber nicht … Doch da!« Sie wies auf eine Buchtasche, die an der Wand hing. Sie nahm sie herunter und zog einen Codex heraus. Der Ledereinband war künstlerisch verziert, aber leider durch dunkle Schmierflecken verdorben.
Ehrfürchtig legte sie den Band auf einen Tisch und winkte Rathend, die Kerze höher zu halten.
»Herrlich«, sagte sie beim Aufschlagen der ersten Seite. »Das ist eine Abschrift der Hexapla des Origenes. Was haben Scoriath oder Liadin ausgerechnet damit gewollt?«
Dem Brehon dauerte das alles schon zu lange. »Ich kenne kein Gesetz, das den Besitz von Büchern verbietet.«
»Dennoch ist es ungewöhnlich, gerade dieses Werk hier zu finden.« Fidelma ließ sich von ihrem Vorhaben nicht abbringen und blätterte Seite um Seite um. Es war eine Sammlung hebräischer religiöser Texte, die Origenes, Haupt der Christenschule von Alexandria, vor drei Jahrhunderten zusammengestellt hatte. Er hatte in nebeneinander stehenden Spalten den Text in Hebräisch, Griechisch und auch Latein angeordnet.
Bei einem Blatt stutzte Fidelma. Dort begann ein Kapitel mit der Überschrift Apokrypto, und jemand hatte einen Abschnitt darin angestrichen. Fidelma besann sich auf ihre Griechisch-Kenntnisse. Das Wort bedeutete »verborgene Texte«. Sie las den Abschnitt und runzelte die Stirn. Die Geschichte handelte von dem assyrischen König Nebukadnezar, der sein Heer gegen die Israeliten sandte. Das Heer stand unter dem Oberbefehl des unbesiegbaren Feldherrn Holofernes. Als die Assyrer die israelische Stadt Bethulia belagerten, ging eine jüdische Frau namens Judith ins Lager der Assyrer und wurde vor Holofernes gebracht. Sie verführte ihn, und als er später, sinnlos betrunken, schlief, hieb sie ihm den Kopf ab und kehrte damit zurück zu ihrem Volk. Die Belagerten nahmen das als ein Zeichen ihres Gottes, schöpften neuen Mut, stürzten sich auf die Feinde und schlugen sie in die Flucht.
Fidelma konnte sich eines Lächelns nicht erwehren. Diese Geschichte hätten auch die alten irischen Barden erzählen können. Damals glaubte man, die Seele wohnt im Kopf des Menschen, und daher war es ein besonderes Zeichen der Hochachtung, dem besiegten Feind den Kopf abzuschlagen. Während sie den hebräischen Text mit der Fassung in Griechisch und Latein verglich, verschlug es ihr fast den Atem, denn ihr ging auf, dass der Name Judith ja nichts anderes als »Jüdin« bedeutete.
Warum war gerade diese Stelle angestrichen worden? Was hatte Scoriath damit gemeint, als er Liadin gestand, er möchte das Kriegshandwerk aufgeben und Landmann werden, falls ihm die »Jüdin« das nicht verwehrte? Scoriath war ein Fremdländischer und zudem gewissermaßen der Feldhauptmann seiner Krieger wie Holofernes. Auch war sein Kopf fast abgetrennt worden. Hatte das etwas zu bedeuten, absonderlich, wie es war?
Nachdenklich schob sie die Handschrift in die Schutztasche zurück. Der Richter, der ihr zugeschaut hatte, konnte sich keinen Reim darauf machen. »Hast du nun alles gesehen, was du sehen wolltest?«
Fidelma blickte auf und verkündete: »Ich wünsche den Sippenkundigen der Uí Dróna zu sprechen.«
»Jetzt auch noch die Stammesfürstin! Willst du sie allen Ernstes befragen? Was hat sie mit der ganzen Sache zu tun?«
Erst eine Stunde war vergangen, und Rathend und Fidelma saßen in der großen Halle der Festung.
»Das herauszufinden ist nun einmal meine Sache«, erwiderte Fidelma. »Ich bin befugt, Irnan zur Vernehmung vorzuladen. Oder streitest du das ab?«
»Es steht dir frei, ja.« Nur zögerlich räumte Rathend es ein. »Ich kann nur hoffen, du weißt, worauf du dich da einlässt, Fidelma von Kildare.«
Irnan erschien, nachdem die beiden sie eine Weile, unbehaglich schweigend, erwartet hatten. Kaum stand die Stammesfürstin in der Tür, da sprang Richter Rathend schon auf.
»Warum lädt man mich vor, Rathend?«, fragte Irnan gereizt und überging Fidelma absichtlich. Doch es war die Anwältin, die ihr antwortete.
»Seit wann war Scoriath dein Liebhaber, Irnan?«
Selbst wenn nur eine Nadel zu Boden gefallen wäre, man hätte es gehört. Die Frau mit dem dunklen Teint wurde bleich und presste die Lippen zusammen. Der Schreck saß tief.
Fassungslos starrte Rathend Fidelma an und traute seinen Ohren nicht.
Einen Augenblick später schien Irnan alle Kraft zu verlassen. Sie sank auf einen Sessel. In ihren Blicken, die sich unverwandt auf Fidelma richteten, mischten sich Verwirrung und Furcht. Da sie schwieg, redete Fidelma weiter.
»Vor deiner Geburt hat sich dein Vater Drón, wie ich erfahren habe, im Hafen von Síl Maíluidir aufgehalten. Er wollte einige Kaufleute des Clans ermutigen, dort Handel zu treiben. Auch mit einem Kaufherrn aus Phönizien, der eine schöne Tochter hatte, wurde er handelseinig. Drón heiratete sie, und sie hatten ein Kind. Das warst du. Deine Mutter hieß Judith – die Jüdin. Sie ist nur wenige Monate nach deiner Geburt gestorben. Nach ihrem Tod nahm dich dein Vater hierher mit, und hier bist du aufgewachsen.«
»Daraus mache ich kein Geheimnis«, erwiderte Irnan bissig. »Gewiss hat dir Moluan, der Genealoge, davon erzählt.«
»Wann hat Scoriath dir gestanden, dass er dich nicht mehr liebt, dir seinen Befehlsstab zurückgeben und als einfacher Landmann leben will?«
Sie hatte sich bereits wieder in der Hand und lachte kurz auf. »Du weißt längst nicht alles, du kluge dálaigh beim hohen Gericht. Scoriath hat mich immer geliebt und hat mir das noch an dem Tag versichert, als seine Frau ihn aus Eifersucht ermordete.«
Dass Irnan sich so unverblümt äußerte, überraschte Fidelma.
»Scoriath hat mich geliebt, aber er war ein Ehrenmann«, sagte Irnan schneidend. »Er wollte Liadin nicht verletzen und schon gar nicht seinen kleinen Sohn, deshalb wollte er sich von seiner Frau nicht scheiden lassen. Er wollte sich nicht von ihnen trennen.«
»Damit war für dich ein Motiv gegeben, ihn zu töten«, stellte Fidelma fest.
»Ich habe Scoriath geliebt. Nie hätte ich ihm ein Leid angetan.«
»Willst du uns glauben machen, dass du dich mit der Situation abgefunden hattest?«
»Gleich an dem Tag, an dem Scoriath zu uns kam, haben wir uns ineinander verliebt. Mein Vater, der damals Stammesfürst war, merkte das bald. Scoriath hat er zwar als Krieger geschätzt, doch sollte ich mit einem wohlhabenden irischen Fürsten verheiratet werden. Nach meinem Dafürhalten lag ihm vor allem deshalb daran, weil ich die Tochter meiner fremdländischen Mutter bin und er meine fremde Herkunft vor den Leuten verbergen wollte. Er zwang Scoriath in eine arrangierte Ehe mit Liadin. Doch geliebt hat er sie nie.«