Irnan hielt inne und blickte gedankenverloren ins Feuer, ehe sie mit ihren dunklen Augen Fidelma erneut ins ernste Gesicht sah. »Als mein Vater starb, wurde ich die Anführerin der Uí Dróna und durfte nach meinem eigenen, freien Willen handeln. Ich drängte Scoriath, sich von Liadin zu trennen und ihr und dem Kind eine ansehnliche Abfindung zu geben. Er konnte sich dazu nicht durchringen, es ging ihm gegen seine Ehre. Er wollte Liadin nicht weh tun. Und so blieb es bei unserem Liebesverhältnis.
Dann erfuhr ich, auf welche Weise Scoriath und sein Sohn zu Tode gekommen waren. Wer es getan hatte, war ganz offensichtlich. Liadin muss hinter unser Verhältnis gekommen sein und hat ihn in einem Eifersuchtsanfall getötet.«
Schwester Fidelma schaute Irnan nachdenklich an. »Vielleicht ist die Schuldfrage doch nicht ganz so offensichtlich. Wir haben nur deine Erklärung, wie Scoriaths Gemütsverfassung war. Genauso gut hättest du Scoriath ermorden können, weil er deine Liebe zurückwies.«
Irnan sah ihr streitsüchtig in die Augen. »Ich lüge nicht. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.« Sie stand auf. »Bist du mit deiner Befragung fertig?«
»Erst einmal, ja.«
Ohne Rathend oder Fidelma noch eines Blickes zu würdigen, wandte sich die Stammesfürstin um und rauschte davon.
Fidelma war mit sich unzufrieden. Irgendetwas beunruhigte sie, doch konnte sie es nicht recht einordnen.
Rathend wollte gerade etwas sagen, da öffnete sich die Tür zur Halle, und ein schüchterner Bursche trat herein. Er trug die braune, grob gewebte Kutte eines Mönchs.
»Ist Brehon Rathend hier?«, fragte er unsicher, und da er Fidelma erblickte, murmelte er rasch: »Bene vobis, Schwester.«
»Ich bin Rathend«, sagte der Richter. »Weshalb wünschst du mich zu sprechen?«
»Ich bin Suathar aus dem Kloster des heiligen Moling. Ich möchte einen Band abholen, den wir Scoriath ausgeliehen haben. Doch man hat mich an dich verwiesen. Bevor ich das Buch in Empfang nehmen kann, bedarf es deiner Einwilligung, hieß es.«
Fidelma griff rasch ein. »Hat Scoriath die Abschrift der Hexapla des Origenes aus eurer Klosterbibliothek entliehen?«
»Ja, vor einer Woche«, bestätigte der junge Bursche.
»Ist Scoriath selbst in die Bibliothek gekommen, um sich die Handschrift auszuleihen?«
Suathar wunderte sich über die Frage und schüttelte den Kopf.
»Nein. Er hat in einem Brief darum gebeten, ihm den Band zu bringen, sobald jemand im rath der Uí Dróna zu tun hat. Vor sechs Tagen führte mich mein Weg hierher, weil die Tante von Lady Liadin erkrankt war und deren Pflege brauchte. Bei der Gelegenheit habe ich die Handschrift Liadin übergeben.«
Rathend händigte dem Mönch die Buchtasche aus.
»Überprüfe erst, ob alles in Ordnung ist«, riet Fidelma dem jungen Mann, der sich schon bedankte.
Der Mönch zögerte kurz und nahm dann den in Leder gebundenen Band heraus, wendete ihn hin und her und öffnete ihn.
»Gibt es vielleicht eine Markierung bei der Geschichte des Holofernes?«, erkundigte sich Fidelma.
»Ja«, stellte er fest, »aber als ich die Handschrift brachte, war die noch nicht da. Außerdem«, fast traute er sich nicht, es zu sagen, »waren da auch nicht diese dunklen, bräunlichen Flecken auf dem Einband. Die sehen aus wie der Abdruck einer Handfläche.«
Fidelma holte tief Luft und schalt sich wegen ihrer Blindheit. Sie nahm den Band, betrachtete ihn und legte die Hand zum Größenvergleich auf den Abdruck. »War ich ein Narr!«, sagte sie zu sich selbst, fing sich aber gleich wieder. »Suathar, wird dieses Werk des Origenes oft ausgeliehen, ist es sehr gefragt?«
»Sehr gefragt eigentlich nicht. Du weißt ja selbst, Schwester, wir christlichen Gläubigen haben kaum noch ein Interesse daran, denn der große Origenes hat da hebräische Texte zusammengetragen, die fragwürdiger Natur sind. Wir nennen diese Geschichten jetzt die ›Apokryphen‹ nach der griechischen Bezeichnung.«
Fidelma hob die Hand, um seinem Redefluss Einhalt zu gebieten. »Stimmt. Findet sich die Geschichte von Judith und Holofernes sonst noch irgendwo?«
»Nicht dass ich wüsste, Schwester.«
»Hat Lady Liadin die Bibliothek eures Klosters schon einmal besucht?«
Suathar verzog den Mund und dachte nach.
»Doch ja. Das ist allerdings ein paar Wochen her.«
Mit ernster Miene wandte sich Fidelma dem Richter zu. »Ich habe meine Nachforschungen abgeschlossen. Ich muss nur noch einmal Liadin aufsuchen. Die Verhandlung kann morgen stattfinden.«
»Dann wird deine Verteidigung für Lady Liadin wohl auf ein ›Nicht schuldig‹ hinauslaufen?«, fragte Rathend.
Fidelma schüttelte den Kopf und teilte dem Brehon, der bei ihren Worten zusammenzuckte, mit: »Nein, ich werde auf ›schuldig‹ plädieren. Liadin ist sehr raffiniert zu Werke gegangen, aber nicht raffiniert genug.«
Bevor Schwester Fidelma in Liadins kleine Zelle trat, hatte sie Conn, der jetzt die Leibwache befehligte, gebeten, sie zu begleiten und vor der Tür zu warten, falls sie ihn benötigte.
Hoffnungsvoll blickte ihr Liadin entgegen, während sie sich erhob, doch Fidelma blieb in der Tür stehen und verschränkte die Arme.
»Ich werde dich verteidigen, Liadin«, begann sie in kühlem Ton, »doch nur, um mildernde Umstände für deine Schuld zu erwirken. Es ist nicht leicht für mich, erkennen zu müssen, dass du gedachtest, mich zu missbrauchen und in diesen verwerflichen Plan einzubeziehen.«
Nur langsam begriff Liadin, was Fidelma gesagt hatte. Sie wollte sich zur Wehr setzen, doch ihre Anwältin unterbrach sie sofort.
»Ich weiß, wie du vorgegangen bist. Mit einer Reihe falscher Fährten wolltest du meinen Verdacht auf Irnan lenken und hast dabei mit meiner intellektuellen Eitelkeit gerechnet. Darüber hinaus hast du auf meine menschliche Schwäche vertraut, denn du hast darauf gebaut, dass unsere so viele Jahre währende Freundschaft nicht zu erschüttern wäre und ich überzeugt sein würde, dass du nie zu so einer Tat imstande wärst.«
Liadins Gesicht wirkte plötzlich wie versteinert. Sie ließ sich auf die Bettstatt fallen.
»Du hast erfahren, dass Scoriath dich nie wirklich geliebt hat«, fuhr Fidelma erbarmungslos fort. »Du kamst dahinter, dass er ein Verhältnis mit Irnan hatte. Das Verbrechen war von langer Hand vorbereitet. Wenn du ihn nicht haben konntest, so sollte auch Irnan ihn nicht haben. Du hast einen hinterhältigen Plan ausgeheckt und zu einer doppelten List gegriffen. Ich sollte dich verteidigen, gleichzeitig aber durch die falsch gelegte Fährte Irnan verdächtigen.«
»Nie hätte ich so etwas bewerkstelligen können«, begehrte die Gefangene auf.
»Dir war Irnans Abstammung nicht verborgen geblieben, und das brachte dich auf die Geschichte mit Holofernes. Im Griechischen warst du immer gut, und da verfielst du darauf, einen Köder auszulegen, auf den ich anspringen würde. Bei einem Besuch in der Bibliothek des Klosters Moling hast du die Geschichte in der Hexapla des Origenes überprüft. Als du die Zeit für gekommen hieltest, hast du in Scoriaths Namen die Anforderung geschickt, Suathar möchte dir den Band bringen, der mir den nächsten Hinweis liefern sollte. Deshalb hast du in unserem Gespräch fallenlassen, dass Scoriath sich vor einer fürchtete, die einfach die ›Jüdin‹ genannt wurde.«
Fidelma machte eine Pause. Traurig und bekümmert schaute sie ihre Freundin an.
»Die Buchtasche mit der Handschrift hast du in der Schlafkammer aufgehängt. Dann geschah etwas Unerwartetes. Branar hörte zufällig deinen Streit mit Scoriath mit. Deine Pläne durchkreuzte das nicht, denn ich war ja deiner Ansicht nach fest von deiner Unschuld überzeugt. Ich griff zu einer harmlosen List, die Branars Aussage unglaubwürdig erscheinen ließ. Und ich war sogar stolz darauf. Bei der Anwendung einer List ist Vorsicht jedoch geboten, umso mehr, wenn man von einer vorgefassten Meinung ausgeht. Es kann schlimme Folgen haben.