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»Alles steht in Gottes Hand«, bekräftigte Rathend pathetisch.

ANGSTSCHREI AUS DER GRUFT

Es war am Abend vor Allerheiligen. Tressach, ein Krieger der Garde vom königlichen Palast in Tara, wo Sechnasach, der Hochkönig von Irland, residierte, war unglücklich. Ausgerechnet an diesem Abend hatte er den meist gehassten Dienst: Er hatte auf dem Teil des Palastgeländes Wache zu halten, wo ganze Generationen von Hochkönigen begraben lagen. Gedenktafeln aus Granit mit Inschriften gaben Auskunft darüber, welche Monarchen unter den Hügeln ruhten; oft genug hatte man sie mitsamt ihren Streitwagen und ihrer Rüstung bestattet, dazu mit Grabbeigaben, die sie auf ihrer Reise in die Anderswelt begleiten sollten.

Tressach fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Musste ihn dieser Dienst auch gerade in der gefürchtetsten aller Nächte treffen! Von alters her hatte der Abend vor Allerheiligen besondere Bedeutung. Noch heute wurde er von vielen unter dem alten Namen Samhain-Fest begangen, obwohl die fünf Königreiche längst den neuen Glauben der Christenheit angenommen hatten. Nach der Tradition aus vergangenen Zeiten war Samhain die Nacht des Jahres, in der den Lebenden das Reich der Anderswelt erschien, in der die Seelen der Toten das Diesseits betreten und sich an jedem, der ihnen zu Lebzeiten Unrecht getan hatte, rächen durften. Die Vorstellung war in den Menschen tief verwurzelt, selbst der Neue Glauben hatte nichts dagegen ausrichten können. Die Christen hatten einen Ausweg ersonnen, indem sie zwei unterschiedliche Feiern eingeführt hatten, um so das alte Fest mit einzubeziehen. Zu Allerheiligen wurde der Heiligen gedacht, der bekannten und der weniger bekannten, und der darauffolgende Tag Allerseelen war dem Gedenken an die Seelen der in Christo Verstorbenen vorbehalten.

Tressach hatte den von einer Mauer abgeschirmten Bezirk mit den Gräbern vor sich, der weitab von den Palastgebäuden lag. Ihn fröstelte in der kalten Abendluft. Der Herbst verabschiedete sich zusehends, und der Winter schickte seine Vorboten, weiße Finger eines schleichenden Bodenfrostes, der von den heiligen Hügeln im Königsgau Meath kam.

Tressach blieb stehen und tastete mit den Augen die Wegstrecke zwischen den düsteren Grabhügeln und ihren Portalen aus Granitgestein ab. Man hatte ihr den Namen »Allee der großen Könige« gegeben, denn hier hatten die berühmtesten der früheren Herrscher ihre letzte Ruhestätte gefunden. Hier befand sich das prunkvolle Grab von Ollamh Fodhla, dem vierzigsten König, der die Gesetze Irlands gesammelt und einen féis, einen Konvent, begründet hatte, der alle drei Jahre zum Samhain-Fest in Tara zusammentrat. Dann trafen sich Richter, Anwälte und Stammesbeauftragte, debattierten über Gesetze und überarbeiteten sie. Just in diesem Jahr kam es wieder zu einer solchen Begegnung, und Tressach wusste, dass bereits viele Richter und Anwälte in Tara eingetroffen waren. Ihre Beratungen sollten am nächsten Morgen beginnen.

Eine andere bemerkenswerte Grabstätte war die von Macha Mong Ruadh, Macha mit dem Fuchshaar, der sechsundsiebzigsten Monarchin und einzigen Frau, die über Irland regiert hatte. Dahinter reihten sich die Gräber von Conaire dem Großen, von Tuathal dem Rechtmäßigen, von Art dem Einzigen, von Conn der hundert Schlachten und von Fergus Schwarzzahn. Würde ihn jemand befragen, hätte Tressach ihm die Namen aller dort Ruhenden der Reihe nach herunterbeten können. So war es eben, selbst mächtige Herrscher sanken ins Grab.

Weshalb aber ein Krieger seine Zeit damit verschwenden sollte, diese Ruhestätte der Toten abzulaufen und zu bewachen, hatte er nie verstanden. Welche Notwendigkeit gab es, einen so trostlosen Ort wie diesen zu bewachen, noch dazu in der finstersten aller Herbstnächte? Er wünschte sich sehnlichst von hier weg … egal, wohin.

Wenigstens hatte er eine kleine Laterne, aber den rechten Trost spendete ihm ihr Licht auch nicht. Er begann, die dunkle Gräberreihe abzulaufen und beschleunigte seinen Schritt. Je schneller er sich seiner Aufgabe entledigt hatte, desto besser. Mit gutem Gewissen würde er seinem Vorgesetzten berichten können, dass in der Anlage alles in Ordnung war. Der Gedanke an einen Krug mit cuirm, einem starken Met, machte die Sache etwas erträglicher.

Er bog um eine Ecke und blieb an einer der Ehrenreihen gewissenhaft stehen, um sich etwas sorgsamer umzuschauen. An Stellen, von denen aus sich ein günstiger Überblick ergab, hielt er es für richtig, seinen Pflichten ausführlicher nachzukommen. Das schuldete er seinem Hauptmann und seinem Stolz als Krieger. Er leuchtete die Umgebung mit seiner Laterne ab und erspähte ein frisch ausgehobenes Grab. Nur keine Schwäche zeigen! Er wusste, dass Garbh, der Friedhofswärter, zu dessen Pflichten die Pflege der Ruhestätten und das Anlegen neuer Gräber gehörte, in den letzten zwei Tagen hier geschaufelt hatte. Noch waren die Arbeiten nicht beendet, und das Grab war leer, aber trotzdem fühlte sich Tressach wie magisch davon angezogen und starrte in das gähnende schwarze Loch mit der ringsherum frisch aufgehäuften schwarzen Erde. Seine Phantasie spielte verrückt, Angstvorstellungen aus seiner Kindheit schnürten ihm die Kehle zu. Jeden Augenblick konnte sich da unten etwas Schreckliches auftun. Er beugte das Knie und riss sich beherzt los.

Am Ende der Reihe mit den Gräbern aus der etwas jüngeren Zeit erhob sich ein Hügel, ein wenig abseits von den anderen. Es handelte sich um eine uralte Grabstätte, eine sogenannte dumma. Umringt war sie von Säulen aus Granit mit eingemeißelten Schriftzeichen in Ogham, der alten irischen Schrift, die mit der Einführung des Neuen Glaubens dem Lateinischen hatte weichen müssen. Im Dunkeln ließ sich nichts weiter erkennen, doch Tressach wusste auch so, dass dieses Grab reicher geschmückt war als die anderen. Unter dem Sturz aus einem Granitblock befanden sich schwere Eichentüren, mit Kupfer und Bronze beschlagen und mit Eisenbändern verstärkt. Die Täfelungen waren mit Gold- und Silberarbeiten besetzt.

Es war eins der ältesten Gräber in Tara. Wollte man den Chronisten Glauben schenken, so war es um die tausendfünfhundert Jahre alt und die letzte Ruhestätte von Tigernmas, dem sechsundzwanzigsten Hochkönig. Er war als »Herr des Todes« in die Geschichte eingegangen; von allen Königen aus alten Zeiten hatte er die meisten Kriege geführt und allein in einem Jahr neununddreißig Schlachten gewonnen. Während seiner Herrschaft, so berichteten die Geschichtenerzähler, wurden in Irland die ersten Gold- und Silberminen entdeckt und Schürfungen begonnen. Tigernmas wurde ein reicher und mächtiger König. Er verfügte, dass die Menschen Kleidung mit unterschiedlichen Farben zu tragen hatten, an denen ihre Clanzugehörigkeit und ihr Rang in der Gemeinschaft zu erkennen waren.

Unter all den Gräbern, an denen Tressach an diesem ohnehin unheimlichen Abend vorbei musste, war es das von Tigernmas, vor dem er sich am meisten fürchtete. Die Chronisten wussten zu berichten, dass Tigernmas sich von den alten Göttern abgewendet hatte, um ein Idol zu verehren, dessen Kult mit Blutvergießen und Rachetaten einherging. Anlässlich des Samhain-Festes ließ er auf der Ebene Magh Slecht Menschenopfer darbringen. Daraufhin ereilte ihn ein grausames Schicksal. Tigernmas und all seine Gefolgsleute starben an einer seltsamen Krankheit; seinen Leichnam brachte man nach Tara zurück, um ihn neben den anderen Königen zu bestatten.

Tressach war mit der Geschichte nur allzu gut vertraut und hätte etwas darum gegeben, wenn er sie zu dieser Stunde aus seinen Gedanken hätte verbannen können. Mit der einen Hand hielt er den Griff seines Schwertes fest umklammert, mit der anderen die Laterne etwas höher. Es beruhigte ihn. Er war im Begriff, an der Grabstätte des Tigernmas vorbeizuhasten, als ihn ein Schrei lähmte. Beine und Arme wollten ihm nicht länger gehorchen. Es war ein gedämpfter Schrei, ein erstickter Schmerzensschrei.