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Unmittelbar darauf rief eine gequälte Stimme: »Zu Hilfe! Gott, erbarme dich!«

Tressach brach der kalte Schweiß aus. Er war außerstande, sich zu bewegen oder einen Laut hervorzubringen; die Kehle war ihm wie zugeschnürt und ausgetrocknet.

Nur das eine war ihm klar – der Schrei war aus der seit Jahrhunderten versiegelten Gruft des Tigernmas gekommen.

Abt Colmán, der geistliche Ratgeber der Großen Versammlung der Stammesfürsten der fünf Königreiche Irlands, ein untersetzter Mann mit rötlichem Gesicht und Mitte fünfzig, erhob sich, um die junge Nonne zu begrüßen, die soeben sein Zimmer betreten hatte. Sie war eine große Frau mit graugrünen Augen, und selbst ihr Schleier konnte das rote Haar nicht bändigen.

»Es tut immer wieder gut, dich hier in Tara zu sehen, Schwester Fidelma! Nur beglückst du uns allzu selten mit deinem Besuch.« Mit ausgestreckten Händen ging er auf sie zu.

»Dominus tecum«, erwiderte sie ernst und ließ mit dieser Anrede nicht das Protokoll außer Acht. Der schmunzelnde Abt wehrte kopfschüttelnd ab, ergriff warmherzig ihre Hände und führte sie zu einem Stuhl am Feuer. Sie waren alte Freunde, doch war eine lange Zeit verstrichen, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten.

»Ich hatte mich schon besorgt gefragt, ob wir dich zu unserer Versammlung hier würden begrüßen dürfen. Alle anderen Richter und Anwälte sind bereits eingetroffen.«

Mit einem schelmischen Lächeln sah ihn Schwester Fidelma, die zum Kloster der Heiligen Brigid von Kildare gehörte, an.

»Von einem Konvent wie diesem fernzubleiben, hätte ich mir nicht verzeihen können. Dafür stehen zu viele strittige Punkte zur Debatte, wegen denen ich mich mit dem Obersten Richter anlegen möchte.«

Ihre Antwort stimmte den Abt heiter, und freudig erkundigte er sich, ob ihr ein Becher gewärmter, aus Gallien eingeführter Wein genehm wäre. Sie war dem nicht abgeneigt, und so langte er nach einer Amphore aus Ton, goss daraus roten Wein in einen Krug, nahm einen glühend heißen Schürharken aus dem Feuer und tauchte ihn in die Flüssigkeit. Dann schenkte er ihr ein entsprechendes Maß in einen silbernen Becher.

Der Abend war kühl, und Fidelma sprach gern dem wärmenden Getränk zu.

»Ist es wirklich schon drei Jahre her, seit du zuletzt in Tara warst?« Der Abt mochte es kaum glauben. Kopfschüttelnd nahm er ihr gegenüber Platz.

»Es erscheint auch mir wie eine Ewigkeit«, stimmte sie ihm zu.

»Der König spricht immer noch voller Anerkennung von dir und wird dir nie vergessen, wie du das Rätsel um sein gestohlenes Schwert gelöst hast.«

»Ah ja, Sechnasach. Ist er wohlauf? Und des Königs Familie, wie geht es der?«

»Es gibt keinen Grund zur Klage. Deo gratias«, fügte er fromm hinzu. »Aber wie ich höre, ist dir in der Zwischenzeit allerlei widerfahren.«

Ein heftiges Klopfen an der Tür hinderte ihn am Weitersprechen. Entschuldigend sah er Fidelma an und forderte den Störenfried auf, einzutreten.

Es bedurfte keines Kennerblicks – der im Türrahmen wartende Krieger war total verstört. Obwohl er einen Schafspelz anhatte, bebte er am ganzen Körper, als fröre er erbärmlich, und das Gesicht war aschfahl. Seine Lippen zitterten, und die dunklen Augen hasteten unstet vom Abt zu der jungen Nonne und wieder zurück zum Abt.

»Nun los schon, Mann«, fuhr ihn Colmán ungehalten an, »heraus mit der Sprache. Worum geht es?«

»Ehrwürdiger Abt.« Mehr brachte er nicht heraus, und selbst die zwei Worte waren kaum zu verstehen.

Colmán wurde ungeduldig. »Nun rede endlich, Mann!«

»Ich bin Tressach von der Leibgarde des Königs. Irél, mein Befehlshaber, schickt mich, ich soll dich holen. Da ist etwas passiert …« Er verstummte.

»Etwas passiert? Was ist passiert?«

»Bei den Grabstätten der Hochkönige. Irél bittet dich, sofort zu kommen.«

»Warum? Was ist geschehen?« Colmán verspürte wenig Lust, die Wärme spendende Behaglichkeit von Feuer und Wein gegen die Kälte draußen einzutauschen. Aber er war geistlicher Ratgeber am königlichen Hof, jedes Vorkommnis, das das geistliche Leben in Tara betraf – bis hin zur Aufsicht über den Friedhof – fiel in seinen Verantwortungsbereich.

Fidelma nippte derweil an ihrem Wein, beobachtete aber aus einem Augenwinkel heraus den Krieger und sein aufgeregtes Gebaren. Der Mann hatte völlig die Fassung verloren, und die schroffe Art des Abts half ihm wenig, sie wiederzugewinnen. Sie stellte ihren Trinkbecher auf dem Tisch ab und lächelte ihm aufmunternd zu.

»Erzähl, was geschehen ist, und dann sehen wir gemeinsam, was wir tun können.«

Der Krieger machte eine hilflose Armbewegung, antwortete aber. »Ich hatte Wache. Bei den Grabstätten, genau gesagt. Ausgerechnet heute Abend, und ich dort allein. Aus dem Grab von Tigernmas kam plötzlich ein Schrei …«

»Aus dem Grab?«, vergewisserte sich Fidelma.

»Aus der Gruft, Schwester.« Der Krieger unterstrich seine Behauptung mit einem kurzen Beugen des Knies. »Ich hörte eine Stimme, die ganz deutlich Gott um Hilfe anrief. Ich war halbtot vor Angst. Gegen Feinde aus Fleisch und Blut kann ich mich zur Wehr setzen, aber nicht gegen umherirrende, gequälte Seelen von Toten.«

»Na, na«, verwahrte sich Colmán gegen die Vorstellung. »Vielleicht treibt da nur einer seinen Schabernack. Ich weiß sehr wohl, was für eine Nacht wir heute haben.«

Fidelma hingegen sah dem Gesicht des Mannes an, dass ihm keineswegs spaßig zumute war.

»Sprich weiter«, ermunterte sie ihn. »Was hast du daraufhin unternommen?«

»Unternommen? Ich bin gelaufen, was ich konnte. Ich bin zu Irél, meinem Befehlshaber, gerannt, um ihm zu berichten. Er ist mit einem anderen Krieger und mir zurück zur Grabstätte gegangen. Und was soll ich sagen, Schwester? Die Stimme war wieder da. Etwas schwächer zwar, aber wie zuvor rief sie um Hilfe. Irél und der andere Krieger haben es auch gehört.«

Colmán wollte ihm immer noch nicht glauben.

»Und was erwartet Irél nun von mir? Soll ich mich an den Ort begeben und für die Seelen der Toten beten?«

»Das nicht. Irél ist nicht einer von denen, die an umherirrende Geister glauben. Aber mein Hauptmann bittet um Erlaubnis, das Grab öffnen zu dürfen. Er glaubt, jemand steckt da drinnen und ist verletzt.«

Entsetzt schaute der Abt ihn an.

»Das Grab ist doch aber seit tausendfünfhundert Jahren nicht mehr geöffnet worden. Wie soll da jemand hineingeraten sein?«

»Genau das hat ihm Garbh auch gesagt.«

»Wer ist Garbh?«, fragte Fidelma.

»Der Friedhofswärter. Irél hat ihn rufen lassen und von ihm verlangt, er solle die Gruft öffnen.«

»Und hat Garbh das getan?«, forschte der Abt gereizt.

»Nein. Er hat sich geweigert, er ist nur bereit, es auf höheres Geheiß zu tun. Deshalb hat mich mein Hauptmann hergeschickt, er braucht deine Erlaubnis.«

»Da hat er recht. Das ist eine schwerwiegende Angelegenheit«, murmelte Colmán. »Gräber zu öffnen, das ist eine Entscheidung, die kein Soldat, auch nicht der Befehlshaber der königlichen Leibgarde, fällen kann.« Er erhob sich und schaute Fidelma an. »Wenn du mich bitte entschuldigst, Schwester …«

Doch auch Fidelma stand auf.

»Ich denke, ich sollte dich begleiten«, sagte sie ruhig. »Wenn aus einer versiegelten Gruft eine Stimme ertönt, dann muss auch jemand dort hineingekommen sein … oder aber, Gott behüte, es ist tatsächlich ein Geist, der nach uns ruft.«

Als sie an der Grabstätte ankamen, fanden sie dort den ernst dreinblickenden Befehlshaber der königlichen Leibgarde zusammen mit einem weiteren Krieger vor. Noch ein dritter Mann stand bei ihnen, stämmig, muskulös, in Lederjacke und Hosen, wie Arbeiter sie trugen. Er sah nicht nur kampfeslustig aus, sondern hatte sich offensichtlich auch mit dem Hauptmann angelegt. Als er sie bemerkte, war er sichtlich erleichtert und begrüßte zuerst den Abt.