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Sie bogen nach rechts in die Hereford Street ein, parkten das Auto und gingen in die Einfahrt von Nummer 54. Ein kleines, schwarzes, zottiges Tier kam kläffend auf sie zu und entblößte eine Reihe spitzer, scharfer Zähne. Das winzige Monster sah richtig wütend aus und hatte verblüffende Ähnlichkeit mit einem Bild des tasmanischen Teufels in der Touristenbroschüre. ›Aggressiv und höchst unerfreulich, wenn man es an der Kehle hängen hat‹, hieß es dort. Die Art war beinahe ausgerottet, und Harry hoffte, daß das wirklich stimmte. Als dieses Exemplar mit weit geöffnetem Rachen an ihm hochspringen wollte, hob Andrew seinen Fuß und beförderte das kreischende Wesen mit einem glatten Volley in den Busch am Zaun.

Ein dickbäuchiger Mann, der aussah, als sei er gerade erst aufgestanden, stand mit säuerlicher Miene in der Tür, als sie die Treppe emporstiegen: »Wo ist der Hund?«

»Der bewundert die Rosen«, grinste ihn Andrew vielsagend an. »Wir kommen von der Polizei, Mordkommission. Mr. Robertson?«

»Jaja, jaja. Was wollen Sie denn jetzt schon wieder? Ich habe doch schon gesagt, daß ich schon alles gesagt habe, was ich weiß.«

»Und jetzt haben Sie gesagt, daß Sie gesagt haben, daß Sie schon alles …« Es entstand eine lange Pause, während Andrew unverändert lächelte und Harry sein Gewicht von dem linken auf den rechten Fuß verlagerte.

»Tut mir leid, Mr. Robertson, wir haben nicht vor, Sie länger als nötig mit unserem Charme gefangenzunehmen, aber dieser Mann hier ist Inger Holters Bruder, und er würde gerne ihr Zimmer sehen, wenn Ihnen das nicht zu viele Umstände macht.«

Robertsons Haltung änderte sich schlagartig.

»Oh, entschuldigen Sie, ich hatte ja keine Ahnung … kommen Sie herein!« Er schob die Tür weit auf und ging vor ihnen die Treppe hoch.

»Ja, ich wußte ja nicht einmal, daß Inger einen Bruder hatte. Aber jetzt, wo Sie es sagen, die Ähnlichkeit der Geschwister ist wirklich verblüffend.«

Hinter ihm drehte sich Harry zu Andrew um und verdrehte die Augen.

Es war kein Versuch unternommen worden, Ingers Zimmer aufzuräumen. Überall lagen Kleider herum. Zeitschriften, volle Aschenbecher und leere Weinflaschen.

»Äh, die Polizei bat mich, erst einmal nichts anzurühren.«

»Ist schon klar.«

»Sie kam einfach eines Abends nicht nach Hause. War plötzlich wie vom Erdboden verschluckt.«

»Danke, Mr. Robertson, wir haben Ihre Aussage gelesen.«

»Ich habe ihr gesagt, daß sie nachts nicht über die Bridge Road und am Fischmarkt vorbeigehen soll. Es ist total dunkel dort, und es wimmelt nur so von Schwarzen und Gelben …« Entsetzt blickte er auf Andrew Kensington: »Entschuldigen Sie, ich hab das nicht so gemeint …!«

»Ist schon okay. Sie können jetzt gehen, Mr. Robertson.«

Robertson schlurfte die Treppe hinunter. Kurz darauf hörten sie aus der Küche das Geklimper von Flaschen.

Ingers Zimmereinrichtung bestand aus einem Bett, ein paar Regalen und einem Schreibtisch. Harry ließ seinen Blick durch den Raum schweifen und versuchte sich einen Eindruck von Inger Holter zu machen. Transposition: sich in die Rolle des Opfers zu versetzen. Er erinnerte sich nur noch dunkel an das irgendwie burschikose Mädchen auf dem Bildschirm mit ihrem gutgemeinten, jugendlichen Engagement und dem unschuldigen Blick.

Sie gehörte ganz offensichtlich nicht zu diesen hyperhäuslichen Frauen, die ihre ganze freie Zeit dafür nutzten, an ihrem Nest zu bauen. Abgesehen von einem Kinoplakat, Braveheart mit Mel Gibson, und einem kleinen, mit einer Nadel festgesteckten Foto hingen an den Wänden keine Bilder. Harry erinnerte sich an den Streifen nur noch, weil dieser aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen einen Oscar als bester Film erhalten hatte. Na ja, dachte er, sie hatte also, was Filme anging, einen schlechten Geschmack. Und auch was Männer betraf. Er selbst gehörte zu denjenigen, die sich persönlich beleidigt fühlten, als sich Mad Max zum Hollywood-Sternchen mauserte.

Das Foto zeigte Inger auf einer Bank vor einer bunten, westernartigen Hausfassade, umringt von einer Gruppe langhaariger, bärtiger Jugendlicher. Sie trug ein weites, violettes Kleid. Das blonde Haar hing glatt an beiden Seiten des ernsten Gesichtes herab. Der junge Mann, dessen Hand sie hielt, hatte ein kleines Baby auf dem Schoß.

Im Regal lagen ein Päckchen Tabak, ein paar Bücher über Astrologie und eine grobgeschnitzte Holzmaske mit einer langen, schnabelartig nach unten gebogenen Nase. Harry drehte die Maske um. Made in Papua New Guinea stand auf dem Preisschild.

Diejenigen Kleider, die nicht auf dem Boden oder auf dem Bett lagen, hingen in einem kleinen Kleiderschrank. Es war nicht viel. Ein paar Baumwolltops, ein abgenutzter Mantel und ein großer Strohhut auf der Hutablage.

Andrew kramte aus der Schreibtischschublade ein Päckchen Zigarettenpapier hervor.

»King Size Smoking Slim. Sie hat sich ein paar dicke Zigaretten gedreht.«

»Habt ihr Drogen gefunden?« fragte Harry.

Andrew schüttelte den Kopf und zeigte auf das Zigarettenpapier.

»Aber ich glaube, daß wir Spuren von Cannabis gefunden hätten, wenn wir die Aschenbecher genauer untersucht hätten.«

»Warum wurde nichts unternommen? War die Spurensicherung nicht hier?«

»Erstens gibt es keine Anzeichen dafür, daß das hier der Tatort ist. Zweitens ist das Rauchen von Marihuana nichts Besonderes. Hier in New South Wales haben wir eine etwas pragmatischere Einstellung gegenüber Marihuana als in manchen anderen Teilstaaten von Australien. Ich kann nicht ausschließen, daß der Mord etwas mit Drogen zu tun hat, aber ein oder zwei Joints sind in diesem Zusammenhang wohl eher unbedeutend. Ob sie andere Sachen genommen hat, können wir nicht mit Sicherheit sagen. Im Albury kursieren allerhand Designerdrogen, aber niemand, mit dem wir gesprochen haben, hat irgendwelche Andeutungen gemacht, und auch die Blutuntersuchung hat nichts ergeben. Harte Drogen hat sie jedenfalls keine genommen. Sie hatte keine Einstiche, und im eigentlichen harten Milieu kennen wir uns ganz gut aus.«

Harry schaute ihn an. Andrew räusperte sich.

»Das ist jedenfalls die offizielle Version. Hier ist übrigens eine Sache, bei der du uns, wie sie meinten, vielleicht helfen könntest.«

Es war ein auf norwegisch geschriebener Brief. Er begann mit Liebe Elisabeth, war aber ganz offensichtlich nicht zu Ende geschrieben worden. Harry überflog die Seite:

O ja, es geht mir wirklich gut, und was noch viel wichtiger ist: Ich bin verliebt! Natürlich ist er schön wie ein griechischer Gott, mit langen lockigen, dunklen Haaren, einem kleinen Knackarsch und einem Blick, der dir all das zeigt, was er dir gerade zugeflüstert hat: Daß er dich haben will – jetzt sofort – hinter der nächsten Hausecke, auf der Toilette, auf dem Tisch, auf dem Boden, wo auch immer. Er heißt Evans, ist 32 Jahre alt, ist (welch Überraschung) schon einmal verheiratet gewesen und hat einen süßen, kleinen, eineinhalbjährigen Jungen, der Tom-Tom heißt. Im Moment hat er keinen richtigen Job, sondern arbeitet mehr für sich selbst.

Ja, ja, ich weiß, Du ahnst schon wieder Schwierigkeiten und ich verspreche Dir, mich nicht hineinreißen zu lassen. Jedenfalls vorläufig nicht.

Genug von Evans. Ich arbeite noch immer im Albury. ›Mr. Bean‹ hat endlich aufgehört, mich einzuladen, nachdem Evans einmal abends in der Bar war, und das ist in jedem fall ein Fortschritt. Aber er verfolgt mich noch immer mit seinem klebrigen Blick. Shit! Eigentlich habe ich den Job langsam satt, aber ich sollte noch so lange weitermachen, bis meine Aufenthaltsgenehmigung verlängert worden ist. Ich habe mit dem norwegischen Fernsehen gesprochen. Man plant für nächsten Herbst eine Fortsetzung der Serie, und es gibt wohl Möglichkeiten, daß ich mitmachen kann, wenn ich will. Decisions, decisions!

An dieser Stelle brach der Brief ab, ohne Unterschrift oder sonst ein Zeichen.

Als sie gingen, reichte Harry Robertson zum Dank die Hand, und daraufhin verbeugte sich Robertson und bekundete sein Beileid. Inger sei ein feines Mädchen und eine vortreffliche Mieterin gewesen, ja ein wahrer Stolz für das ganze Haus, wenn nicht sogar die ganze Nachbarschaft. Aber was wüßte er denn schon?