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Er roch nach Bier, und auch seine Aussprache war nicht mehr ganz deutlich. Als sie aus dem Haus traten, hörten sie unter dem Rosenbusch ein Fiepen. Ein paar ängstliche Augen lugten hervor.

Sie bekamen einen Tisch in einem engen vietnamesischen Restaurant in Darling Harbour, wo sich außer ihnen fast ausschließlich Asiaten befanden. Die meisten von ihnen schienen Stammgäste zu sein. Sie führten unverständliche Gespräche mit dem Kellner in einem merkwürdigen Tonfall, der ganz plötzlich und unvorhersehbar ansteigen und abfallen konnte.

»Das hört sich so an, als wenn die in gewissen Abständen Helium inhalieren würden, richtige Donald-Duck-Stimmen«, meinte Harry.

»Magst du keine Asiaten?« fragte Andrew.

Harry zuckte mit den Schultern. »Mögen oder nicht mögen! Ich kenne keine. Ich habe keinen Grund, sie nicht zu mögen, um es so zu sagen. Es scheinen ehrliche und hart arbeitende Menschen zu sein. Und du?«

»Viele Asiaten wollen nach Australien, und vielen hier gefällt das nicht. Ich habe gegen niemanden etwas. Sollen sie doch kommen, sage ich immer.«

Zwischen den Zeilen schien Harry da etwas herauszuhören wie: Es ist ohnehin zu spät, mein Volk hat sein Land bereits verloren.

»Vor ein paar Jahren war es für einen Asiaten fast vollkommen unmöglich, eine Aufenthaltsbewilligung zu bekommen. Die Regierung wollte das Land möglichst weiß halten. Alles unter dem Vorwand, große kulturelle Konflikte vermeiden zu wollen. Die Erfahrungen bei der Integration der Aborigines seien ja, vorsichtig ausgedrückt, nicht sonderlich positiv. Aber dann boten die Japaner an, Australien finanziell unter die Arme zu greifen, und plötzlich wurde eine ganz andere Musik gespielt. Da hieß es auf einmal, man müsse aufpassen, sich nicht zu isolieren, und daß man berücksichtigen müsse, daß Asien unser nächster Nachbar sei und die Wirtschaftsverbindungen zu einem Land wie Japan mittlerweile wichtiger seien als zu Europa oder den USA. Also durften japanische Konzerne ihre Touristenburgen an der Gold Coast Richtung Brisbane errichten und japanische Manager, Köche und Empfangspersonal zu uns herüberbringen, während die Australier als Stubenmädchen oder Piccolos arbeiten durften. Früher oder später gibt es auf so etwas eine Reaktion. Niemand mag es, in seinem eigenen Land Schuhputzer zu werden.«

»Und das gilt auch für dein Volk, denke ich.«

Andrew lächelte gequält.

»Die Europäer haben den Aborigines nie irgendein Gesuch um Aufenthaltsbewilligung vorgelegt.«

Harry blickte auf die Uhr. Es dauerte noch ein paar Stunden bis das Albury aufmachte.

»Du möchtest vielleicht erst noch einmal nach Hause?« fragte er.

Andrew schüttelte den Kopf. »Dort begegne ich zur Zeit auch niemand anderem als mir.«

»Zur Zeit?«

»Tja, die letzten zehn Jahre. Ich bin geschieden. Meine Frau wohnt mit den Kindern in Newcastle. Ich versuche sie so oft wie möglich zu besuchen, aber das ist ein gutes Stück entfernt, und die Mädchen sind bald so groß, daß sie am Wochenende eigene Pläne haben. Bald wird mir wohl bewußt werden, daß ich nicht mehr der einzige Mann in ihrem Leben bin. Weißt du, es sind hübsche, kleine Teufel. Vierzehn und fünfzehn Jahre alt. Verdammt, ich sollte all die Köter, die sich vor ihrer Tür herumtreiben, zum Teufel jagen!«

Andrew grinste breit. Harry konnte nicht anders, ihm gefiel dieser plötzliche Ausbruch seines Kollegen.

»Well, that's the way it goes, Andrew

»That's right, mate. How 'bout you?«

»Nun, keine Frau, keine Kinder. Kein Hund. – Das einzige, was ich habe, ist eine Chefin, ein Vater und ein paar Typen, die ich noch immer Freunde nenne, auch wenn zwischen ihren Anrufen Jahre vergehen. Oder ich anrufe.«

»In dieser Reihenfolge?«

»In dieser Reihenfolge.« Sie lachten, blieben an dem Tisch sitzen und betrachteten die einsetzende nachmittägliche Rushhour. Andrew bestellte noch ein Victoria Bitter. Aus den Geschäften und Banken strömten die Menschen; grauhaarige Griechen mit Adlernasen, bebrillte Asiaten in dunklen Anzügen, Holländer und langnasige, rothaarige Mädchen, die zweifellos britischer Abstammung waren. Alle rannten sie, um den Bus nach Paramatta oder die U-Bahn nach Bondi Junction zu erreichen. Geschäftsleute in kurzen Hosen – ein typisch australisches Phänomen, wußte Andrew zu erzählen – hasteten zu den Kaianlagen, zu den Fähren in die Vorstädte auf der nördlichen Seite der Port Jackson-Bucht.

»Was machen wir jetzt?« fragte Harry.

»Wir gehen in den Zirkus! Das ist gleich hier oben in der Straße, und ich habe einem Freund versprochen, daß ich mal vorbeischaue. Und heute ist es soweit, oder?«

Im Powerhouse hatte eine kleine Zirkustruppe bereits ihre Gratisvorstellung am Nachmittag für ein nicht gerade zahlreiches, aber enthusiastisches junges Publikum begonnen. Das Gebäude war früher ein Kraftwerk gewesen, und später, als in Sydney noch die Straßenbahnen fuhren, eine Halle für Straßenbahnen. Jetzt diente es als eine Art zeitgenössisches technisches Museum. Ein paar durchtrainierte Frauen hatten gerade eine nicht sonderlich aufsehenerregende Trapeznummer beendet, trotzdem war der Beifall wohlwollend laut.

Ein Clown betrat die Manege, in die gleichzeitig eine wuchtige, riesige Guillotine geschoben wurde. Er trug eine bunte Uniform und eine gestreifte Mütze, was alles auf die Französische Revolution hindeuten sollte. Er stolperte und machte zur großen Freude der Kinder allerhand Unsinn. Dann erschien ein zweiter Clown mit langer weißer Perücke, und Harry erkannte, daß dieser Ludwig XVI. verkörpern sollte.

»Mit einer Stimme Mehrheit zum Tode verurteilt«, verkündete der Clown mit der gestreiften Mütze.

Der Verurteilte wurde zum Schafott geführt, wo sein Kopf – noch immer zur großen Begeisterung der Kinder – unter viel Ach und Weh schließlich auf der Guillotine, unter dem Fallbeil, plaziert wurde. Ein kurzer Trommelwirbel ertönte, das Beil ratterte zur Überraschung aller – Harry eingeschlossen – herab, trennte das Haupt des Monarchen mit einem Geräusch ab, das an winterliche Axtschläge im Wald erinnerte, und der Kopf löste sich mitsamt Perücke vom Körper und kugelte in einen Korb. Das Licht ging aus, und als es wieder eingeschaltet wurde, stand der kopflose König, seinen eigenen Kopf unter dem Arm, im Rampenlicht mitten in der Manege. Der Jubel der Kinder wollte kein Ende nehmen. Dann ging das Licht erneut aus, und als es zum zweiten Mal angeschaltet wurde, stand die gesamte Truppe da und verbeugte sich. Die Vorstellung war beendet.

Während die Besucher dem Ausgang entgegenströmten, gingen Andrew und Harry hinter die Bühne. In der provisorischen Garderobe zogen die Artisten bereits ihre Kostüme aus und schminkten sich ab.

»Otto, ich möchte dir einen Freund aus Norwegen vorstellen!« rief Andrew.

Ein Gesicht drehte sich um. Ludwig XVI. sah ohne Perücke und mit verschmierter Schminke deutlich weniger majestätisch aus: »Tuka The Indian!«

»Harry, das ist Otto Rechtnagel.«

Otto hielt ihm standesgemäß die Hand mit leicht abgewinkeltem Handgelenk entgegen und schien etwas beleidigt zu sein, als Harry sich, leicht verwirrt, damit begnügte, diese schwach zu drücken.

»No kiss, handsome?«

»Otto fühlt sich als Frau. Eine Frau adeliger Abstammung«, erklärte Andrew.

»Alles nur Unsinn, Tuka. Otto weiß nur zu gut, daß er ein Mann ist. Sie sehen verwirrt aus, junger Mann? Vielleicht wollen Sie sich selbst davon überzeugen?« Ottos Lachen war wie ein hoher Triller.

Harry spürte, wie seine Ohren heiß wurden. Ein paar falsche Augenwimpern flatterten Andrew vorwurfsvoll entgegen: »Redet er auch, dein Freund?«

»Entschuldigung, ich heiße … Harry … äh … Holy. War 'ne tolle Vorstellung da draußen. Schöne Kostüme. Sehr … lebendig. Ungewöhnlich.«