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22

Die Tätowierung

Gene Binoche sah nicht nur so aus, er hörte sich auch so an wie jemand, der sein ganzes Dasein dem Rock 'n Roll gewidmet und sein Leben immer bis zum Anschlag voll ausgekostet hatte, und er schien auch nicht eher aufhören zu wollen, ehe er am Ziel war. Und das sah er jetzt wohl vor sich.

»Ich denke mir, daß die da unten einen guten Tätowierer brauchen können«, sagte Gene und tunkte die Nadel ein. »Der Satan wird doch wohl die unterschiedlichsten Torturen mögen, oder, mate?«

Doch sein Kunde war ziemlich voll, und sein Kopf hing immer schiefer, so daß er wohl weder Genes philosophische Betrachtungen über das Leben und den Tod noch die Nadel, die sich in seine Schulter schnitt, mitbekam.

Gene hatte es zuerst abgelehnt, als dieser Kerl in seinen Laden gekommen war und lallend und mit einem merkwürdig singenden Akzent sein Anliegen vorgebracht hatte.

Gene hatte geantwortet, daß er keine Betrunkenen tätowiere, und ihn gebeten, am nächsten Tag wiederzukommen. Doch der Typ hatte einen 500-Dollar-Schein für eine Tätowierung, deren Wert er mit 150 Dollar einschätzte, auf den Tisch geknallt, und da es in den letzten Monaten, vorsichtig ausgedrückt, eher ruhig gewesen war, hatte er schließlich doch seinen Ladyshave und den Deodorantstift herausgeholt und mit der Behandlung begonnen. Aber den Schluck aus der Flasche, den ihm der Kerl daraufhin angeboten hatte, hatte er abgelehnt. Gene Binoche tätowierte schon seit zwanzig Jahren seine Mitmenschen, er war stolz auf seine Arbeit und überzeugt, daß seriöse Fachleuchte nicht bei der Arbeit tranken. Und auf keinen Fall Whiskey.

Als er fertig war, klebte er einen Rest Klopapier auf die tätowierte Rose. »Geh nicht in die Sonne und wasch die Stelle in der nächsten Woche nur mit Wasser. Die gute Nachricht ist, daß die Schmerzen im Laufe des Abends nachlassen werden und du das Papier morgen wegmachen kannst. Die schlechte, daß du wiederkommen wirst, um dir noch weitere Tätowierungen machen zu lassen«, grinste er.

»They always do

»Ich will nur diese haben«, sagte der Kerl und schwankte durch die Tür hinaus.

23

Viertausend Fuß und ein Ende

Die Tür ging auf, und der Lärm des Windes von draußen wurde ohrenbetäubend. Harry hockte sich an der Türöffnung auf die Knie.

»Bist du bereit?« hörte er eine Stimme in sein Ohr brüllen. »Zieh die Reißleine bei viertausend Fuß und denk daran, anschließend zu zählen. Wenn du nicht innerhalb von drei Sekunden den Ruck des Schirmes spürst, ist etwas nicht in Ordnung.«

Harry nickte.

»Ich gehe raus!« rief die Stimme.

Er sah, wie der Wind den schwarzen Overall des kleinen Mannes packte, als dieser in das Gestänge unter der Tragfläche kletterte. Die wenigen Haarsträhnen, die unter seinem Helm hervorlugten, flatterten im Wind. Harry warf noch einmal einen Blick auf den Höhenmesser auf seiner Brust. Er zeigte mehr als zehntausend Fuß an.

»Nochmals danke!« rief er dem Piloten zu. Der Pilot drehte sich um.

»Nichts zu danken, Kollege! Das macht mehr Spaß als Marihuana-Äcker zu fotografieren.«

Harry streckte seinen rechten Fuß aus dem Flugzeug. Es fühlte sich an wie früher, als er klein war und auf der Fahrt in den Urlaub nach Åndalsnes das Fenster herunterkurbelte und seine Hand hinausstreckte, um zu »fliegen«. Er erinnerte sich daran, wie der Wind seine Hand ergriff, wenn er die Handfläche dagegenstemmte.

Die Kraft des Windes war außerhalb des Flugzeugs gewaltig, und er mußte seinen Fuß richtig nach vorne und unten drücken, um Halt auf dem Gestänge zu bekommen. Er zählte innerlich, wie Joseph es ihm gesagt hatte – »rechter Fuß, linke Hand, rechte Hand, linker Fuß«. Dann stand er neben Joseph. Kleine Wolkenfetzen trieben ihnen entgegen, beschleunigten, trafen sie und waren noch in der gleichen Sekunde wieder verschwunden. Unter ihnen lag ein Flickenteppich in den unterschiedlichsten Nuancen von Grün, Gelb und Braun.

»Hotel check!« schrie Joseph ihm ins Ohr.

»Checking in!« rief Harry und schaute zu dem Piloten im Cockpit hinüber, der ihm den Daumen zeigte. »Checking out!« Er schaute Joseph an und sah einen Helm, eine Brille und ein breites weißes Lächeln in einem schwarzen Gesicht.

Harry lehnte sich vom Gestänge weg und hob den rechten Fuß.

»Horizont Up! Down! Go!«

Dann war er in der Luft. Harry hatte das Gefühl, nach hinten geblasen zu werden, während das Flugzeug seine ruhige Flucht nach vorne fortsetzte. In den Augenwinkeln sah er, wie das Flugzeug abdrehte, bis er begriff, daß er sich selbst drehte. Er schaute zum Horizont, an dem sich die Erdkugel abzeichnete und der Himmel immer blauer wurde, bis er in das Azurblau des Pazifiks überging, über den Kapitän Cook hierher gesegelt war.

Joseph schüttelte ihn, und er preßte seine Hüfte nach unten, um eine bessere Fallposition zu bekommen. Er überprüfte den Höhenmesser. Neuntausend Fuß. Mein Gott, wieviel Zeit sie hatten! Er bewegte seinen Oberkörper, wobei er die Arme ausstreckte, und machte eine halbe Drehung.

Vor ihm im Westen lagen die Blue Mountains, die blau waren, weil dort ganz spezielle Eukalyptusbäume eine Art blauen Dunst ausströmten, den man aus weiter Entfernung erkennen konnte. Joseph hatte ihm das erzählt. Er hatte ihm auch erzählt, daß hinter diesen Bergen das Land lag, das seine Vorfahren, das Nomadenvolk, als Heimat bezeichneten. Die unendlichen trockenen Ebenen – the outback –, die den größten Teil dieses riesigen Kontinents ausmachten. Es war unglaublich, daß in diesem unbarmherzigen Backofen jemand überleben konnte, doch Josephs Volk hatte viele tausend Jahre dort gelebt, bis die Weißen kamen.

Harry blickte nach unten. Wie friedlich und verlassen es dort unten aussah. Ein stiller, liebenswerter Planet mußte das sein. Der Höhenmesser zeigte siebentausend Fuß an. Joseph ließ ihn wie vereinbart los. Ein ernsthafter Verstoß gegen die Vorschriften, aber, was es an Regeln gab, hatten sie ohnehin schon dadurch überschritten, daß sie alleine hier oben waren. Harry sah, wie Joseph die Arme anlegte, um horizontal Geschwindigkeit zu bekommen. Verblüffend schnell verschwand er nach links unten.

Dann war Harry alleine. Wie man immer alleine ist. Es fühlt sich nur so viel besser an, wenn man sechstausend Fuß hoch im freien Fall über der Erde ist.

Kristin hatte ihre Wahl an einem grauen Montagmorgen in einem Hotelzimmer getroffen. Sie war vielleicht aufgewacht, erschöpft von dem neuen Tag, der noch nicht einmal richtig angebrochen war, hatte aus dem Fenster gesehen und sich entschlossen, daß es nun genug sei. Welche Gedanken sie sich gemacht hatte, wußte Harry nicht. Die menschliche Seele war ein tiefer, dunkler Wald, und alle Entscheidungen trifft man allein.

Fünftausend Fuß.

Vielleicht hatte sie die richtige Entscheidung gefällt? Das vollkommen leere Tablettenröhrchen deutete jedenfalls darauf hin, daß sie nicht gezweifelt hatte. Und eines Tages mußte es ein Ende geben, eines Tages war es höchste Zeit. Der Wunsch, diese Welt mit einem gewissen Stil zu verlassen, zeugte jedenfalls von einer gewissen Eitelkeit – einer Schwäche –, die nur wenige Menschen hatten.

Viertausendfünfhundert Fuß.

Andere Menschen hatten nur eine Schwäche für das Leben. Ganz einfach. Na ja, vielleicht nicht ganz so einfach, aber das alles lag jetzt so weit entfernt dort unten. Viertausend Fuß, um ganz genau zu sein. Er umklammerte den orangenen Griff auf der rechten Seite seiner Brust, zog entschlossen an der Reißleine und begann zu zählen: »Einundzwanzig, zweiundzwanzig …«