»Nett, Holy. Aber bist du dir sicher, daß dein Schlaftier denn wirklich alle Details dieses Bildes mitbekommt? Bei dem, was man sieht, kommt es schließlich auch auf den Blickwinkel an.«
»Wie meinst du das?«
»Nimm zum Beispiel den Sternenhimmel. Der Sternenhimmel, den du in Norwegen siehst, ist genau der gleiche, den du hier von Australien aus siehst. Aber weil du jetzt down under bist, stehst du kopf, verglichen mit dem, was du von zu Hause aus siehst, nicht wahr? Deshalb sind alle Sternenbilder sozusagen falsch herum. Wenn du aber nicht weißt, daß du ›auf dem Kopf stehst‹, verwirrt es dich und du machst Fehler.«
Harry blickte Andrew an.
»Auf dem Kopf, was?«
»Na klar.« Andrew paffte seine dicke Zigarre.
»In der Schule habe ich gelernt, daß euer Sternenhimmel ein völlig anderer ist als unserer. Wenn man in Australien ist, verdeckt der Erdball die Sterne, die man in Norwegen während der Nacht sieht.«
»Das sagt man so«, fuhr Andrew unbeirrt fort. »Trotzdem kommt es darauf an, von wo aus man die Dinge betrachtet. Der Knackpunkt ist doch, daß alles relativ ist, nicht wahr? Und das macht eben alles so schrecklich kompliziert.«
Von der Bühne hörten sie ein fauchendes Geräusch, und weißer Rauch quoll hervor. Im nächsten Augenblick war er rot gefärbt, und Geigenmusik erklang durch die Lautsprecher. Eine Frau in einem einfachen weißen Kleid und ein Mann mit einer langen Hose und einem weißen Hemd entstiegen dem Rauch.
Harry hatte die Musik schon einmal gehört. Es war die gleiche, die während der ganzen Strecke von London aus den Kopfhörern des Walkmans seines Nebenmannes im Flugzeug gesickert war. Aber erst jetzt bekam er den Text mit. Eine Frauenstimme sang, daß man sie »wild rose« nannte, sie aber nicht wußte, wieso.
Die jungmädchenhafte Stimme stand in grellem Kontrast zu der tiefen, dunklen Männerstimme.
»Then I kissed her goodbye, said all beauty must die, I bent down and planted a rose between her teeth …«
Harry träumte von Sternen und braunen und gelben Schlangen, als er von einem leisen Klopfen an der Tür seines Hotelzimmers geweckt wurde. Einen Augenblick lang lag er still und spürte ganz einfach, wie wohl er sich fühlte. Es hatte wieder zu regnen begonnen, und es rauschte in einer Abflußrinne draußen vor dem Fenster. Er stand auf, nackt, riß die Tür sperrangelweit auf und hoffte, daß seine beginnende Erektion Aufmerksamkeit erregen würde. Birgitta lachte überrascht und ließ sich in seine Arme fallen. Ihr Haar war klitschnaß.
»Ich dachte, du hättest drei Uhr gesagt«, sagte Harry und tat so, als sei er beleidigt.
»Die Gäste wollten einfach nicht gehen«, antwortete sie und hob ihr Sommersprossengesicht zu ihm empor.
»Ich bin wild, hemmungslos und bis über beide Ohren verliebt in dich«, flüsterte er und hielt ihren Kopf fest zwischen seinen Händen.
»Das weiß ich doch«, sagte sie ernst und packte sein pochendes Glied mit ihrer kalten, nassen Hand. »Aber so was! Ist das für mich?«
Harry stand am Fenster, trank Orangensaft aus der Minibar und schaute zum Himmel. Die Wolken waren wieder verschwunden, und jemand hatte mit einer Gabel viele Male in den samtenen Himmel gestochen, so daß das göttliche Licht dahinter durch die Löcher schien.
»Was hältst du von Transvestiten?« fragte Birgitta vom Bett aus.
»Du meinst, was ich von Otto halte?«
»Sowohl als auch.«
Harry dachte nach. Er mußte lächeln.
»Ich glaube, ich mag seine arrogante Art. Die gesenkten Augenlider, sein unzufriedenes Mienenspiel. Die Lebensmüdigkeit. Wie soll ich das nennen? Es ist wie ein melancholisches Cabaret, in dem er mit allem und jedem flirtet. Ein oberflächlicher, selbstverachtender Flirt.«
»Und das magst du?«
»Ich mag diese Scheißegal-Haltung. Daß er all das verkörpert, was die meisten Menschen hassen.«
»Und das wäre?«
»Schwäche. Verletzlichkeit. Die Australier brüsten sich damit, ein liberales Volk zu sein. Vielleicht sind sie es auch. Aber ich habe doch begriffen, daß das Ideal ein ehrlicher, einfacher, hart arbeitender Australier mit viel Humor und einer gewissen Portion Patriotismus ist.«
»True blue.«
»Was?«
»Sie nennen das True blue. Oder Dinkum. Das heißt soviel wie, daß eine Person oder eine Sache echt ist, aus dem Volk stammt.«
»Und hinter dieser Fassade aus jovialer Volkstümlichkeit läßt sich so viel Scheiße verbergen. Otto hingegen, mit all seinem aufgesetzten Flitter, der die Verführung, die Täuschung und das Falsche repräsentiert, scheint mir da noch das Echteste zu sein, das mir hier begegnet ist. Nackt, verletzbar und echt.«
»He, das hört sich ja politisch verdammt korrekt an, wenn du mich fragst. Harry Holy, der beste Freund aller Schwulen, sozusagen.« Birgitta war in der Stimmung, ihn aufzuziehen.
»Aber es hört sich doch gar nicht so schlecht an, oder?«
Er legte sich aufs Bett, schaute sie an und zwinkerte mit seinen unschuldigen, blauen Augen. »Ich bin ja nur froh, daß ich nicht noch einmal auf Sie Lust habe, Fräulein. Wo wir doch morgen so früh raus müssen, meine ich.«
»Das sagst du doch nur, um mich anzumachen«, sagte Birgitta. Sie warfen sich wie zwei geile Tiere aufeinander.
8
Eine nette Hure, ein merkwürdiger Däne und Cricket
Harry fand Sandra vor dem Dez Go-Go. Sie stand am Straßenrand und hielt Ausschau über ihr kleines Königreich in King's Cross. Mit müden Beinen balancierte sie auf hohen Absätzen, die Arme vor der Brust verschränkt. Zwischen ihren Fingern klemmte eine Zigarette, und sie hatte wieder diesen Dornröschenschlafblick aufgesetzt, der gleichermaßen anziehend wie abweisend war. Sie sah, kurz gesagt, aus wie eine x-beliebige Hure irgendwo auf der Welt.
»Guten Morgen«, sagte Harry. Sandra schaute ihn an ohne ein Anzeichen des Wiedererkennens. »Remember me?«
Sie zog die Mundwinkel nach oben. Vielleicht sollte das ein Lächeln sein.
»Sure, love, let's go!«
»Ich bin es, Holy, der Polizist.«
Sandra blinzelte ihn an.
»Klar, Scheiße, natürlich. Meine Kontaktlinsen fangen morgens immer an zu streiken. Vielleicht wegen all der Abgase.«
»Kann ich Ihnen einen Kaffee spendieren?« fragte Harry höflich.
Sie zuckte mit den Schultern.
»Es passiert hier ohnehin nichts mehr, ich kann ebensogut Schluß machen.«
Teddy Mongabi stand plötzlich in der Tür des Nachtclubs und kaute auf einem Streichholz herum. Er nickte Harry kurz zu.
»Wie nehmen es Ihre Eltern auf?« fragte Sandra, als sie ihren Kaffee bekamen. Sie hatten sich in Harrys Frühstückskneipe, Bourbon & Beef, gesetzt, und der Kellner erinnerte sich an Harrys übliche Bestellung: Eggs Benedicte, hashbrowns und Kaffee, white flat. Sandra trank ihren Kaffee schwarz.
»Excuse me?«
»Ihre Schwester …«
»Ja, natürlich.« Er hob seine Kaffeetasse an die Lippen, um ein wenig Zeit zu gewinnen.
»Tja, es geht ihnen wohl so, wie man es von Eltern wohl erwarten kann, danke der Nachfrage.«
»Die Welt, in der wir leben, ist einfach zu beschissen!«
Die Sonne war noch nicht über die Hausdächer der Darlinghurst Road gestiegen, aber der Himmel war bereits azurblau mit ein paar kleinen weißen Wolkenknäueln. Er sah aus wie die Tapete eines Kinderzimmers. Aber das schien nicht zu helfen, denn die Welt war anscheinend einfach zu beschissen.
»Ich hab mit ein paar Mädchen gesprochen«, sagte Sandra. »Der Typ auf dem Bild heißt White. Er dealt mit Speed und Acid. Ein paar Mädchen haben bei ihm etwas gekauft. Aber keine hatte ihn als Kunden.«
»Vielleicht braucht er nicht zu zahlen, um zu bekommen, was er will«, sagte Harry.
Sandra lachte kurz. »Der Bedarf nach Sex ist die eine Sache, die andere ist, sich Sex zu kaufen. Für viele ist das wie ein Kick. Es gibt einiges, was wir für euch tun können, was ihr zu Hause nicht bekommt. Das können Sie mir glauben.«