Sie kamen an einem Plattenladen vorbei, und intuitiv hielt Harry an und ging hinein. Im Halbdunkel hinter dem Verkaufstisch stand ein Kerl mit Sonnenbrille. Harry fragte, ob er Platten von Nick Cave habe.
»Sure, he's Australian«, sagte der Typ und nahm seine Brille ab. Er hatte sich einen Adler auf die Stirn tätowieren lassen.
»Ein Duett, etwas mit ›wild rose‹…«, begann Harry.
»Ja, ja, ich weiß, was Sie meinen. ›Where the wild roses grow‹ von Murder Ballads. Ein Scheißlied. Ein Scheißalbum. Kaufen Sie lieber eine von seinen guten Platten.«
Der Kerl setzte wieder seine Sonnenbrille auf und verschwand hinter dem Tisch.
Harry blieb verblüfft stehen und blinzelte ins Halbdunkel hinein.
»Was ist an diesem Lied so Besonderes?« fragte Birgitta, als sie wieder auf der Straße waren.
»Nichts, im Grunde.« Harry lachte laut. Der Kerl in dem Laden hatte ihm wieder zu guter Laune verholfen. »Cave und diese Frau singen über einen Mord. Es gelingt ihnen, daß sich das schön anhört, fast wie eine Liebeserklärung. Aber das ist bestimmt ein Scheißlied.« Er lachte wieder. »Ich glaube, ich fange an, diese Stadt zu mögen.«
Sie gingen weiter. Harry suchte mit den Augen immer wieder die Straße ab. Sie waren beinahe das einzige Paar auf der Oxford Street, das nicht aus zwei Jungs oder zwei Mädchen bestand. Birgitta nahm seine Hand.
»Du hättest die Schwulenparade am Mardi Gras sehen sollen«, sagte Birgitta. »Die geht hier über die Oxford Street. Im letzten Jahr, hieß es, sind mehr als eine halbe Million Menschen aus dem ganzen Land hierhergekommen, um die Parade zu sehen oder selbst teilzunehmen. Das war vollkommen verrückt.«
Die Schwulenstraße. Die Lesbenstraße. Erst jetzt bemerkte Harry, was für Kleider in den Schaufenstern ausgestellt waren. Latex. Leder. Engsitzende Oberteile und winzige Seidenhöschen, Reißverschlüsse und Nieten. Aber exklusiv und stilvoll, ohne das Plumpe und Vulgäre, das die Nachtclubs von King's Cross auszeichnete.
»Ganz in der Nähe von dort, wo ich aufgewachsen bin, wohnte ein Schwuler«, erzählte Harry. »Er war so um die Vierzig, wohnte alleine, und alle in der Nachbarschaft wußten, daß er ein Homo war. Im Winter haben wir ihm Schneebälle hinterhergeworfen, ihm ›Arschficker‹ nachgeschrien und sind dann wie die Wahnsinnigen davongerannt. Wir waren überzeugt davon, daß er uns von hinten einen stechen würde, wenn er uns zu fassen bekäme. Aber er ist uns niemals nachgerannt, er hat nur seine Mütze tiefer in die Stirn gezogen und ist nach Hause gegangen. Eines Tages war er umgezogen. Er hat mir niemals etwas getan, und ich habe mich immer gefragt, warum ich ihn so gehaßt habe.«
»Die Menschen haben Angst vor allem, was sie nicht verstehen. Und sie hassen das, wovor sie Angst haben.«
»Wie klug du bist«, sagte Harry, und Birgitta boxte ihn in den Bauch. Er ließ sich schreiend auf den Bürgersteig fallen, und sie lachte und bat ihn leise, keine Szene zu machen. Schließlich stand er auf und folgte ihr die Oxford Street hinunter.
»Ich hoffe, er ist hierhergezogen«, sagte Harry.
Nachdem er sich von Birgitta verabschiedet hatte (er war sich im klaren darüber, daß er jede Trennung von Birgitta, gleich ob kurz oder lang, als Abschied betrachtete), wartete er an einer Bushaltestelle. Vor ihm stand ein Junge mit einer norwegischen Flagge auf dem Rucksack. Harry dachte gerade darüber nach, ob er sich zu erkennen geben sollte, als der Bus kam.
Der Busfahrer stöhnte, als Harry ihm eine Zwanzigdollarnote hinhielt.
»So you didn't have a fifty, did ya?« fragte er sarkastisch.
»Wenn ich einen hätte, hätte ich ihn Ihnen wohl gegeben, Sie blöder Schwanzlutscher!« Den letzten Teil sagte er auf breitestem Norwegisch, wobei er unschuldig lächelte, aber der Busfahrer schien sich weder für das zu interessieren, was er verstand, noch was er nicht verstand. Er machte eine häßliche Grimasse, als er Harry das Wechselgeld gab.
Harry hatte sich entschlossen, der Route zu folgen, die Inger in der Mordnacht auf dem Weg nach Hause genommen hatte. Nicht weil das bisher versäumt worden war: Lebie und Yong hatten alle Bars und Restaurants auf der Strecke abgeklappert und das Bild von Inger Holter herumgezeigt – natürlich ohne Resultat. Er hatte versucht, Andrew zum Mitkommen zu bewegen, aber der hatte sich quergestellt und behauptet, dadurch würde er nur wertvolle Zeit vergeuden, die er besser vor dem Fernseher verbringen könnte.
»Ich mache keine Witze, Harry. Fernsehen gibt Selbstvertrauen. Wenn man sieht, wie dumm die Leute im Fernsehen normalerweise sind, fühlt man sich richtig klug. Und wissenschaftliche Untersuchungen haben bewiesen, daß sich Menschen, die sich klug fühlen, besser verkaufen als diejenigen, die sich für dumm halten.«
Harry konnte auf diese Art Logik nichts erwidern, aber Andrew hatte ihm wenigstens den Namen einer Bar an der Bridge Road genannt, deren Besitzer er von Andrew grüßen sollte. »Er kann dir bestimmt auch nichts erzählen, aber vielleicht kriegst du deine Cola da zum halben Preis«, hatte Andrew gesagt und zufrieden gegrinst.
Harry stieg am Rathaus aus dem Bus und schlenderte in Richtung Pyrmont weiter. Er schaute sich die hohen Häuser an und beobachtete, wie die Menschen in Großstadtmanier an den Gebäuden entlanghasteten, ohne daß ihm das aber zu weiteren Erkenntnissen darüber verhalf, was an jenem Abend mit Inger Holter geschehen war. Am Fischmarkt ging er in ein Cafe und bestellte einen Bagel mit Lachs und Kapern. Vom Fenster aus konnte er die Brücke über die Blackwattle Bay und dahinter auf der anderen Seite Glebe sehen. Sie hatten begonnen, draußen auf dem Platz eine Freilichtbühne aufzubauen, und die Plakate verrieten Harry, daß das mit dem Nationalfeiertag, dem Australian Day, am nächsten Sonntag zusammenhängen mußte. Harry bestellte einen Kaffee und begann, sich erst einmal mit dem Sydney Morning Herold herumzuschlagen, einer Zeitung, mit der man einen ganzen Fischlaster hätte einpacken können. Dieses Blatt war eine wahre Herausforderung, selbst wenn man nur die Bilder anschaute. Aber es war noch eine Stunde lang hell, und Harry wollte wissen, welches Tier in Glebe zum Vorschein kam, wenn die Nacht hereinbrach.
Der Inhaber des Cricket war auch der stolze Inhaber des Trikots, das der Nationalheld Nick Amrose getragen hatte, als Australien Anfang der achtziger Jahre England in drei Testspielen hintereinander im Cricket geschlagen hatte. Es hing gerahmt und hinter Glas an der Wand über dem einarmigen Banditen. An der anderen Wand hingen zwei Holzschläger und der Ball, die 1978 in denn Spiel verwendet worden waren, als Australien nach langer Zeit ohne Sieg endlich gegen Pakistan gewinnen konnte. Nachdem jemand die Wicket-Stäbe aus dem Match gegen Südafrika geklaut hatte, die direkt über der Eingangstür gehangen hatten, hatte der Inhaber damit begonnen, seine Kleinode anzunageln. Daraufhin war der eine Knieschutz des legendären Willard Stauntons von einem Gast, dem es nicht gelang, ihn von der Wand zu nehmen, in Fetzen geschossen worden.
Als Harry zur Tür hereinkam, das Arrangement der Heiligtümer an der Wand und all die mutmaßlichen Cricketfans erblickte, die das Klientel des Cricket ausmachten, dachte er spontan, er müsse seine Einschätzung von Cricket als snobistischer Sportart revidieren. Die Gäste sahen nicht gerade frisch frisiert und parfümiert aus, und auch Borroughs hinter dem Tresen machte keinen solchen Eindruck.