»Evening«, wurde er begrüßt. Borroughs' Stimme klang wie die Schneide einer Sense auf dem Schleifstein.
»Tonic, no Gin«, bestellte Harry und sagte, er könne den Rest der Zehndollarnote behalten.
»Für Trinkgeld zu viel, für Bestechung zu wenig«, sagte Borroughs und wedelte mit dem Schein. »Sind Sie Polizist?«
»Ist das so leicht zu erkennen?« fragte Harry mit resignierter Miene.
»Abgesehen davon, daß Sie sich wie einer von diesen Touristen anhören, ja.«
Borroughs legte das Wechselgeld vor ihm auf den Tresen und drehte sich um.
»Ich bin ein Freund von Andrew Kensington«, sagte Harry.
Borroughs drehte sich blitzschnell um und nahm das Wechselgeld wieder an sich.
»Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?« brummte er.
Borroughs konnte sich nicht daran erinnern, etwas von Inger Holter gehört oder sie jemals gesehen zu haben, das wußte Harry bereits, schließlich hatte Andrew schon mit Borroughs gesprochen. Aber wie sein alter Lehrmeister bei der Osloer Polizei, »Lumbago« Simonsen, immer sagte: »Frag lieber einmal mehr …!«
Harry schaute sich um.
»Was gibt es hier zu essen?« fragte er.
»Grillspieß mit griechischem Salat«, antwortete Borroughs, »Tagesmenü, sieben Dollar.«
»Sorry, ich hab mich blöd ausgedrückt«, erwiderte Harry, »ich meinte, was für Menschen kommen hierher, wie sieht Ihre Kundschaft aus?«
»Tja, das sind wohl diejenigen, die man als ›Unterschicht‹ bezeichnet.« Er lächelte ein wenig resigniert. Dieses Lächeln verriet sehr viel über Borroughs' Alltag und darüber, was aus seinem Traum geworden war, aus dieser Bar etwas zu machen.
»Sind das Stammgäste da drüben?« fragte Harry und nickte mit dem Kopf zu einer dunklen Ecke des Raumes hinüber, in der fünf Männer saßen und Bier tranken.
»Ja, natürlich. Die meisten hier sind das. Die großen Touristenscharen verirren sich kaum hierher.«
»Haben Sie etwas dagegen, daß ich denen da drüben ein paar Fragen stelle?« fragte Harry.
Borroughs zögerte.
»Die Kerle da drüben sind nicht gerade Mamas Lieblinge. Ich habe keine Ahnung, wie die das Geld für ihr Bier verdienen, und ich habe auch nicht vor zu fragen. Die arbeiten jedenfalls nicht von neun bis vier, um es so auszudrücken.«
»Es ist wahrscheinlich niemandem recht, wenn hier in der Nachbarschaft unschuldige Mädchen vergewaltigt und erwürgt werden? Auch diejenigen, die es mit dem Gesetz nicht so genau nehmen, sind wohl dieser Ansicht, oder? Das schreckt die Leute von dieser Gegend ab und ist nicht gut für's Geschäft, egal was man verkauft, nicht wahr?«
Borroughs nickte noch immer zögerlich und drehte ein Glas in der Hand hin und her.
»Ich wäre an Ihrer Stelle trotzdem vorsichtig.«
Harry nickte Borroughs zu und ging mit langsamen Schritten zu dem Tisch in der Ecke hinüber, so daß die fünf Zeit hatten, auf ihn aufmerksam zu werden. Einer von ihnen stand auf, noch ehe Harry am Tisch angelangt war. Er verschränkte die Arme vor der Brust und präsentierte einen tätowierten Dolch auf seinem muskulösen Unterarm.
»Die Ecke hier ist besetzt, Blondie!« sagte er mit heiserer, fast tonloser Stimme.
»Ich habe eine Frage …«, begann Harry, aber der Heisere schüttelte bereits den Kopf.
»Nur eine. Kennt jemand von Ihnen diesen Mann, Evans White?«
Harry hielt das Bild hoch.
Bis jetzt hatten die zwei anderen, die ihm zugewandt saßen, ihm eher uninteressierte als feindliche Blicke zugeworfen. Als Whites Name erwähnt wurde, betrachteten sie ihn mit neuerlichem Interesse, und Harry registrierte, daß es auch in der Nackenmuskulatur der beiden anderen, die ihm den Rücken zuwandten, zuckte.
»Nie von ihm gehört«, sagte der Heisere. »Wir führen hier gerade ein … persönliches Gespräch, Mister. Guten Abend.«
»Dieses Gespräch dreht sich wohl nicht gerade um den Verkauf von Stoffen, die nach dem australischen Gesetz verboten sind?«
Es folgte langes Schweigen. Er hatte eine lebensgefährliche Taktik gewählt. Direkte Provokation war etwas, auf das man zurückgreifen konnte, wenn man stabile Rückendeckung oder gute Rückzugsmöglichkeiten besaß. Harry besaß weder noch. Er war ganz einfach nur der Meinung, daß endlich etwas passieren mußte. Der eine Hinterkopf erhob sich. Er hatte fast die Decke des Raumes erreicht, als er sich umdrehte und die häßliche kupferrote Vorderseite präsentierte. Ein glatter Bart, der an den Mundwinkeln herabhing, unterstrich das orientalische Äußere des Mannes.
»Dschingis-Khan! Schön, Sie zu sehen, ich dachte Sie seien tot!« platzte es aus Harry heraus, während er seine Hand ausstreckte.
Khan öffnete den Mund.
»Wer sind Sie?«
Es hörte sich an wie ein Todesröcheln, eine gurgelnde Baßstimme, für die jede Heavy-Metal-Band über Leichen gegangen wäre.
»Ich bin Polizist, und ich glaube nicht …«
»Aidi.« Khan schaute von der Decke aus auf ihn herab.
»Pardon?«
»The badge – den Ausweis!«
Harry war sich klar darüber, daß diese Situation mehr als nur die Plastikkarte der Osloer Polizeibehörde mit dem alten Paßfoto erforderte.
»Hat Ihnen schon einmal jemand gesagt, daß Ihre Stimme haargenauso klingt wie die des Sängers von Sepultura, wie heißt er doch gleich …«
Harry hielt sich einen Finger unter das Kinn und versuchte den Eindruck zu erwecken, als denke er nach. Der Heisere war bereits auf dem Weg um den Tisch herum. Harry zeigte auf ihn:
»Und Sie sind Rod Stewart, nicht wahr? Aha, ihr sitzt hier zusammen und macht Pläne für Life Aid II und s …«
Der Schlag traf Harry genau auf seine Zähne. Er blieb schwankend stehen und hielt sich den Mund.
»Soll ich das so verstehen, daß Sie glauben, daß ich keine Zukunft als Kabarettist habe?« sagte Harry. Er warf einen Blick auf seine Finger. Sie waren voller Blut, Speichel und etwas Weißem, das Harry für das Mark eines Zahnes hielt.
»Man sollte doch meinen, daß die Pulpa rot ist? Das weiche Innere der Zähne, nicht war?« fragte er Rod und hielt seine Hand hoch.
Rod schaute Harry skeptisch an, bevor er sich vorlehnte und sich die weißen Brocken genauer anschaute.
»Das ist Zahnbein, das, was hinter dem Zahnschmelz ist.« sagte er. »Mein Alter ist Zahnarzt«, erklärte er den anderen. Dann trat er einen Schritt zurück und schlug noch einmal zu. Harry wurde es für einen Augenblick schwarz vor Augen, aber er fand sich selbst noch immer in aufrechter Position, als es wieder hell wurde.
»Schau nach, ob du jetzt die Pulpa findest!« forderte ihn Rod neugierig auf.
Harry wußte, daß es eigentlich bescheuert war. Die Summe all seiner Erfahrung und ein gesunder Verstand sagten ihm, daß es bescheuert sei, sein schmerzender Kiefer sagte ihm, daß es bescheuert sei, nur seine rechte Hand fand das leider eine Superidee, und in diesem Moment war sie es, die die Initiative ergriff. Sie traf Rod unter dem Kinn, so daß Harry hören konnte, wie der Kiefer zuklappte, bevor Rod zwei Schritte zurücktaumelte. Die typische Reaktion auf einen schweren, perfekt plazierten Kinnhaken.
Ein solcher Schlag pflanzte sich durch den Kieferknochen direkt ins Kleinhirn fort (in diesem Fall ein sehr treffender Name, wie Harry meinte), wo eine wellenartige Bewegung eine Reihe von Kurzschlüssen auslöste oder aber, wenn man Glück hatte, augenblickliche Bewußtlosigkeit und/oder bleibende Hirnschäden. In Rods Fall schien sich das Gehirn nicht entscheiden zu können, was es tun sollte, ob totaler Blackout oder nur kurzfristige Erschütterung.
Kollege Khan hatte anscheinend nicht vor, auf die Entscheidung zu warten. Er packte Harry am Kragen, hob ihn in Schulterhöhe hoch und stieß ihn wie ein Mehlsack, der auf die Ladefläche eines Lastwagens geworfen wurde, von sich. Das Pärchen, das gerade sein Sieben- Dollar-Menü gegessen hatte, bekam im wahrsten Sinne des Wortes ein Haar in die Suppe und sprang zur Seite, als Harry mit dem Rücken auf den Tisch knallte. Herrgott, hoffentlich werde ich bald ohnmächtig, dachte Harry, als er die Schmerzen spürte und sah, daß Khan auf ihn zukam. Das Schlüsselbein ist ein zerbrechlicher Knochen und ziemlich exponiert. Harry zielte und trat zu, doch die Auseinandersetzung mit Rod schien sich auf sein räumliches Sehvermögen ausgewirkt zu haben, denn er trat nur in die Luft.