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Im Büro erfuhr er, daß der Cricket-Schläger Andrew drei Rippen gebrochen und eine kräftige Gehirnerschütterung verpaßt hatte und daß dieser kaum vor Ablauf der nächsten Woche das Krankenbett verlassen würde.

Nach dem Lunch bat Harry Lebie, ihn bei ein paar Krankenbesuchen zu begleiten. Sie fuhren zum St. Etienne Hospital, wo sie sich in die Besucherliste, ein dickes Buch, eintragen mußten, das aufgeschlagen vor einer noch dickeren Nonne lag, die mit verschränkten Armen hinter ihrer Luke thronte. Harry versuchte sie nach dem Weg zu fragen, aber sie schüttelte nur den Kopf und zeigte den Gang hinunter.

»Sie spricht kein Englisch«, erklärte Lebie.

Sie kamen zu einer Rezeption, an der ein junger, lächelnder Mann sogleich die Namen in seinen PC eingab, ihnen die Zimmernummern mitteilte und erklärte, wie sie dorthin kamen.

»Vom Mittelalter ins EDV-Zeitalter in zehn Sekunden«, flüsterte Harry.

Sie wechselten ein paar Worte mit einem gelbblauen Andrew, der aber schlechte Laune hatte und sie nach fünf Minuten bat zu verschwinden. Auf der Etage darunter lag der Messermann in einem Einzelzimmer. Er ruhte mit geschwollenem Gesicht, den Arm in einer Schlinge, in den Kissen und schaute Harry mit dem gleichen verletzten Blick wie bei ihrer letzten Begegnung an.

»Was willst du, du Scheißbulle?« brummte er.

Harry setzte sich auf einen Stuhl neben dem Bett.

»Ich will wissen, ob Evans White den Befehl gegeben hat, Inger Holter zu töten, wer diesen Auftrag erhalten hat und wieso?«

Der Messermann versuchte zu lachen, mußte aber statt dessen husten.

»Ich hab keine Ahnung, wovon du sprichst, Bulle, und das weißt du wohl auch nicht.«

»Wie geht es deiner Schulter?« fragte Harry.

Die Augen schienen aus der Stirn des Messermannes herauszuquellen.

»Du kannst mir mal …«

Harry zog den Grillspieß aus seiner Tasche. Eine dicke, blaue Ader erschien auf der Stirn des Messermannes.

»Mach keine Witze, Bulle!«

Harry sagte nichts.

»Du bist ja, verdammt noch mal, vollkommen verrückt! Du glaubst doch wohl nicht, daß du, wenn du das machst, so einfach davonkommst. Wenn die, nachdem ihr gegangen seid, nur einen einzigen Kratzer auf meinem Körper finden, bist du deinen verdammten Job los, du Scheißbulle!«

Die Stimme des Messermannes war jetzt zu einer Fistelstimme mutiert. Harry legte seinen Zeigefinger auf die Lippen des Mannes. »Pssst, sei brav. Siehst du den großen, glatzköpfigen Kerl dort drüben an der Tür? Es ist nicht so leicht, die Ähnlichkeit zu erkennen, aber das ist der Vetter von dem, dem ihr gestern mit dem Cricket-Schläger den Schädel eingeschlagen habt. Er hat ganz speziell darum gebeten, heute mitkommen zu dürfen. Sein Job ist es, dir das Maul zu stopfen, wenn ich deine Bandage löse und dir dieses nette Spielzeug hier in die einzige Stelle reinstecke, an der es keine Spuren hinterläßt. Da ist nämlich schon ein Loch, nicht wahr?«

Er drückte vorsichtig gegen die rechte Schulter des Mannes. Tränen quollen aus den Augen des Messermannes, und seine Brust hob und senkte sich gewaltig. Sein Blick flatterte von Harry zu Lebie und zurück. Die menschliche Natur ist ein wilder, undurchdringlicher Wald, aber es schien Harry, als sehe er eine richtige Waldbrandschneise, als der Messermann seinen Mund öffnete. Er sagte ganz ohne Zweifel die Wahrheit.

»Ihr könnt mir nichts tun, was Evans mir nicht zehnmal schlimmer heimzahlt, wenn er erfährt, daß ich ihn verraten hab. Ich weiß und ihr wißt, daß ich, selbst wenn ich etwas zu erzählen hätte, das Maul halten würde. Also fangt ruhig an. Aber laßt mich zuvor noch eine Sache klarstellen: Ihr seid auf der falschen Fährte. Auf einer verdammt falschen Fährte!«

Harry blickte Lebie an. Der schüttelte sachte den Kopf. Harry dachte einen Moment lang nach, dann legte er den Grillspieß auf das Nachtschränkchen.

»Gute Besserung«, wünschte Harry.

»Hasta la vista«, erwiderte der Messermann und zielte mit seinem Ziegefinger auf ihn.

Im Hotel wartete eine Nachricht auf Harry an der Rezeption. Er erkannte die zentrale Nummer der Polizeidienststelle und rief von seinem Zimmer aus sofort an. Yong Sue nahm ab.

»Wir sind noch einmal alle Akten durchgegangen«, sagte er. »Ein bißchen gründlicher dieses Mal. Ein paar Sachen sind aus den Akten nach drei Jahren gestrichen worden. So ist bei uns das Gesetz, wir dürfen ältere Vergehen nicht berücksichtigen. Aber weil es ja Sexualvergehen sind … also, laß es mich dir erklären, wir haben da so eine höchst inoffizielle Back-up-Liste, und in der habe ich etwas Interessantes gefunden.«

»Aha?«

»Die offizielle Akte von Inger Holters Vermieter, Hunter Robertson, war blütenweiß. Aber als wir etwas genauer nachgeschaut haben, hat sich gezeigt, daß er zweimal wegen Exhibitionismus verurteilt worden war. Schwerem Exhibitionismus. «

Harry versuchte sich leichten Exhibitionismus vorzustellen.

»Wie schwer?«

»Er hat in aller Öffentlichkeit seine Geschlechtsorgane berührt. Das muß natürlich noch nichts heißen, es gibt jedoch noch mehr. Lebie ist vorbeigefahren, aber außer einem übelgelaunten Köter, der hinter der Haustür rumgebellt hat, war niemand da. Während Lebie dort wartete, kam der Nachbar. Dabei stellte sich heraus, daß dieser Nachbar von Robertson den Auftrag hatte, jeden Mittwochabend mit dem Hund Gassi zu gehen und ihm zu fressen zu geben. Er hat einen Schlüssel für die Tür. Lebie hat ihn dann natürlich gefragt, ob er das auch an dem Mittwochabend vor Ingers Tod gemacht hat – und das hat er.«

»Und weiter?«

»Robertson hat früher zu Protokoll gegeben, daß er an diesem Abend alleine zu Hause war. Ich dachte mir, du würdest das gerne sofort wissen.«

Harry spürte, daß sein Herz schneller zu schlagen begann.

»Was macht ihr jetzt?«

»Ein Wagen wird ihn morgen früh zu Hause abholen, bevor er zur Arbeit fährt.«

»Hm. Wann und wo hat er diese schrecklichen Untaten begangen?«

»Laß mal sehen. Ich glaube, das war in einem Park. Hier steht es ja. Green Park, das ist ein kleiner …«

»Den kenn ich.« Er dachte schnell nach. »Vielleicht sollte ich einen kleinen Spaziergang machen. Ich hab den Eindruck, daß sich da ein paar Leute fest niedergelassen haben. Vielleicht wissen die was.«

Harry notierte sich die Daten der Vergehen in einem kleinen, schwarzen Kalender, den er jedes Jahr von seinem Vater zu Weihnachten bekam.

»Nur zum Spaß, Yong, was ist leichter Exhibitionismus?«

»Achtzehn Jahre alt zu sein, besoffen und dann am norwegischen Nationalfeiertag einer vorbeipatrouillierenden Polizeistreife den nackten Arsch entgegenzustrecken.«

Er war so perplex, daß er kein Wort mehr herausbrachte.

Yong mußte am anderen Ende der Leitung kichern.

»Wie …?« stotterte Harry.

»Es ist unglaublich, was man mit ein paar Paßwörtern und einem dänischen Kollegen im Nachbarzimmer alles erreichen kann.« Yong lachte herzlich. Harry spürte, wie die Temperatur unter seinem Pony langsam zu steigen begann.

»Ich hoffe, das macht nichts!« Yong hörte sich plötzlich besorgt an. Er befürchtete, zu weit gegangen zu sein. »Ich habe den anderen nichts verraten.«

Er hörte sich so unglücklich an, daß Harry es nicht übers Herz brachte, wütend zu sein.

»In der Patrouille war eine Frau, sie hat mir hinterher ein Kompliment für meine knackigen Arschbacken gemacht.«

Yong lachte zufrieden.

Die Lichter im Park schalteten sich an, als Harry auf die Bank zuging. Er erkannte den grauen Mann sofort.

»Guten Abend.«

Der Kopf, der mit dem Kinn auf der Brust geruht hatte, wurde langsam gehoben, und ein paar braune Augen schauten Harry an – oder besser gesagt durch ihn hindurch – und hefteten sich auf einen Punkt in weiter Ferne.