»Fig?« fragte er mit brüchiger Stimme.
»Sorry?«
»Fig, fig?« wiederholte er und wedelte mit zwei Fingern in der Luft herum.
»Oh, fag. You want a cigarette?«
»Yeah, fig.«
Harry kramte zwei Zigaretten aus der Schachtel und nahm selbst eine. Einen Augenblick lang blieben sie still nebeneinander sitzen und genossen das Rauchen. Sie saßen in einer kleinen grünen Lunge mitten in einer Millionenstadt, und dennoch hatte Harry den Eindruck, weit, weit entfernt in einer öden Wildnis zu sitzen. Vielleicht, weil es dunkel wurde und die Luft dabei von dem elektrischen Zirpen unsichtbarer Heuschreckenbeine erfüllt war, die aneinandergerieben wurden. Oder war es das Gefühl des Rituellen, Zeitlosen, gemeinsam zu rauchen, der weiße Polizist und der schwarze Mann mit dem breiten, fremdartigen Gesicht, das so typisch für die Ureinwohner dieses riesigen Kontinents war.
»Willst du meine Jacke kaufen?«
Er warf einen Blick auf die Jacke des Mannes, eine Art Windjacke aus dünnem Stoff in frischen Rot- und Schwarztönen.
»Die Aborigine-Flagge«, erklärte der Mann und zeigte ihm den Rücken der Jacke. »Mein Vetter macht die.«
Harry lehnte höflich ab.
»Wie heißt du?« fragte der Aborigine. »Harry? Das ist ein englischer Name. Ich habe auch einen englischen Namen. Ich heiße Joseph. Mit p und h. Eigentlich ist das ein jüdischer Name. Der Vater von Jesus, dig? Joseph Walter Roderigue. Mein Stammesname ist Ngardagha. N-gar-dag-ha.«
»Bist du oft hier im Park, Joseph?«
»Ja, oft.« Joseph stellte wieder seinen Tausendmeterblick ein und entschwand. Er zog eine große Saftflasche aus seiner Jacke, bot Harry etwas an und nahm dann selbst einen großen Schluck, bevor er den Verschluß wieder sorgsam auf die Flasche schraubte. Die Jacke war aufgegangen, und Harry konnte die Tätowierung auf der Brust des Mannes erkennen. »Jerry«, stand dort diagonal über einem großen Kreuz.
»Du hast eine schöne Tätowierung, Joseph. Darf ich fragen, wer Jerry ist?«
»Jerry ist mein Sohn. Mein Sohn. Er ist vier Jahre alt.« Joseph spreizte seine Finger, während er versuchte bis vier zu zählen.
»Vier. Ich verstehe schon. Wo ist Jerry jetzt?«
»Zu Hause.« Joseph wedelte mit der Hand in die Luft, um anzudeuten, in welcher Richtung zu Hause war. »Zu Hause bei seiner Mutter.«
»Hör mal, Joseph. Ich bin auf der Suche nach einem Mann. Er heißt Hunter Robertson. Es handelt sich um einen Weißen, er ist klein und hat nur wenig Haare. Manchmal ist er auch hier im Park. Und er … zeigt sich gern. Weißt du, wen ich meine? Hast du ihn gesehen, Joseph?«
»Ja, ja, er kommt«, sagte Joseph und rieb sich die Nase, als meinte er, Harry rede von wirklichen Alltäglichkeiten.
»Warte nur, er kommt.«
Harry zuckte mit den Schultern. Er konnte wohl kaum allzuviel auf Josephs Behauptung geben, aber er hatte nichts anderes vor, und so gab er ihm noch eine Zigarette. Sie blieben auf der Bank sitzen, während sich die Dunkelheit langsam über sie senkte, immer dichter wurde und zum Schluß fast greifbar zu sein schien.
Eine Kirchenglocke schlug in der Ferne, als Harry seine achte Zigarette anzündete. Søs hatte gesagt, daß er endlich aufhören solle zu rauchen, als er sie das letzte Mal mit ins Kino genommen hatte. Sie hatten sich Robin Hood – König der Diebe angeschaut, das schlechteste Casting, das er diesseits von Plan 9 from Outer Space gesehen hatte. Aber es hatte Søs nicht gestört, daß Kevin Costners Robin Hood dem Sheriff von Nottingham auf breitestem Amerikanisch geantwortet hatte. Überhaupt ließ sich Søs durch fast nichts stören, sie lachte lustig, wenn Costner im Sherwood Forest für Ordnung sorgte, und seufzte mit Tränen in den Augen, als sich Marian und Robin am Schluß des Filmes endlich in den Armen lagen.
Anschließend waren sie in ein Cafe gegangen. Dort hatte er ihr einen Kakao bestellt, und sie hatte ihm erzählt, wie gut ihr ihr neues Zimmer im Studentenwohnheim gefiele, auch wenn ein paar der Leute auf dem Flur nichts im Kopf hätten. Und dann wollte sie, daß Harry mit dem Rauchen aufhörte. »Ernst sagt, daß das gefährlich ist, daß man daran sterben kann.«
»Wer ist Ernst?« hatte Harry gefragt, aber die Frage hatte sie nur mit einem Kichern beantwortet. Und dann hatte sie wieder ganz nüchtern gesagt: »Du sollst nicht rauchen, Harald. Du darfst nicht sterben, hörst du?« Das mit »Harald« und »hörst du« hatte sie von der Mutter.
Mit dem Taufnamen Harry hatte Vater sich durchgesetzt. Harrys Vater, Fredrik Hole, ein Mann, der seiner Frau normalerweise in allem und jedem Recht gab, hatte seine Stimme erhoben und darauf bestanden, daß der Junge nach seinem Großvater benannt wurde, der Seemann und somit sicher ein ganzer Kerl gewesen war. Mutter hatte nach eigener Aussage in einem schwachen Moment nachgegeben, etwas, das sie später bitter bereut hatte.
»Gibt es irgendwo irgend jemanden, der jemals gehört hat, daß aus einem, der Harry heißt, jemals etwas geworden ist?« hatte sie gesagt. (Und wenn Vater in der richtigen Laune war, zitierte er sie und zog sie wegen all der »jemande« auf).
Auf jeden Fall begann Mutter, ihn nach ihrem eigenen Onkel »Harald«, zu nennen, nur daß das, abgesehen von ihr selbst, niemand sonderlich wichtig nahm. Und jetzt, nachdem Mutter gestorben war, hatte also auch Søs begonnen, ihn Harald zu nennen. Vielleicht war das Søs' Art, die durch Mutters Tod entstandene Leere aufzufüllen. Harry wußte es nicht. In dem Kopf dieses Mädchens gingen so viele merkwürdige Dinge vor. So hatte sie zum Beispiel mit Tränen in den Augen und Sahne auf der Nase gestrahlt, als er ihr zugesichert hatte, aufzuhören, wenn schon nicht sofort, so doch sicher irgendwann einmal.
Jetzt saß er da und stellte sich vor, wie sich der Tabakqualm als große Schlange in seinen Körper hinunterschlängelte. Bubbur.
Joseph schreckte auf. Er war eingeschlafen.
»Meine Vorfahren gehörten zum Krähen-Volk, Crow People«, sagte er ohne Einleitung und rappelte sich auf. »Sie konnten fliegen.« Der Schlaf schien ihn erfrischt zu haben. Er rieb sich mit beiden Händen das Gesicht.
»Fliegen ist toll. Hast du einen Zehner?«
Harry hatte nur eine Zwanzigdollarnote.
»Das geht auch«, sagte Joseph und nahm sie ihm ab.
Als wenn es sich nur um eine vorübergehende Wetterbesserung gehandelt hätte, zogen sich die Wolken wieder über Josephs vernebeltem Gehirn zusammen, und er murmelte in einer unverständlichen Sprache vor sich hin, die Harry an die Unterhaltung zwischen Andrew und Toowoomba erinnerte. Hatte Andrew das nicht Kreol genannt? Schließlich sackte das Kinn des betrunkenen Aborigines wieder auf seine Brust.
Harry hatte sich entschlossen, seine Zigarette noch zu Ende zu rauchen und dann zu gehen, als Robertson auftauchte. Harry erwartete beinahe, ihn in einem Mantel zu sehen, der Standardausrüstung eines Exhibitionisten, wie er glaubte, doch Robertson trug ganz einfach ein weißes T-Shirt und Jeans. Er schaute nach rechts und links und ging mit einem merkwürdig wippenden Gang, als singe er im stillen ein Lied und marschiere automatisch im Takt. Er erkannte Harry erst, als er unmittelbar vor der Bank stand, und nur wenig von Robertsons Gesichtsausdruck ließ erkennen, daß ihn dieses Wiedersehen sonderlich freute.
»Guten Abend, Robertson. Wir haben versucht, Sie zu finden. Setzen Sie sich.«
Robertson blickte sich um und trippelte auf der Stelle. Er sah aus, als wolle er am liebsten davonlaufen, doch zu guter Letzt setzte er sich mit einem resignierten Seufzer hin.
»Ich habe alles gesagt, was ich weiß«, sagte er. »Warum quält ihr mich noch?«
»Weil wir herausgefunden haben, daß Sie in der Vergangenheit andere gequält haben.«
»Andere gequält? Ich hab, zum Teufel noch mal, doch wohl niemanden gequält!«
Harry schaute ihn an. Robertson war ein Mann, den man nur schwerlich sympathisch finden konnte, aber Harry konnte sich auch beim besten Willen nicht vorstellen, daß er einen Serienmörder vor sich hatte. Ein Faktum, das ihn eigentlich ziemlich müde machte, denn es bedeutete, daß er Zeit vergeudete.