»Wissen Sie, wie vielen jungen Mädchen Sie den Schlaf geraubt haben?« fragte Harry und versuchte soviel Verachtung wie nur möglich in seine Stimme zu legen. »Wie viele von denen nicht vergessen können, sondern für alle Ewigkeit mit dem Bild eines wichsenden Angreifers leben müssen, der sie mental vergewaltigt hat? Wie Sie sich in ihre Gedanken gedrängt haben, ihnen die Sicherheit genommen und ihnen Angst eingejagt haben, allein hinaus in die Dunkelheit zu gehen. Wie Sie sie erniedrigt haben, so daß die Mädchen sich ihr Leben lang beschmutzt fühlen?«
Robertson mußte lachen. »Sonst noch was, Konstabel? Was ist mit all jenen, deren Sexualleben gestört ist? Und jenen, die aus chronischer Angst fortwährend Tabletten nehmen müssen? Übrigens muß ich sagen, daß sich Ihr Kollege in acht nehmen sollte. Derjenige, der gesagt hat, daß man mich wegen Unterstützung einer Straftat zu sechs Jahren verurteilen könnte, wenn ich nicht stramm stünde und vor solchen yob-bos wie euch meine Aussage machte. Aber inzwischen habe ich mit meinem Anwalt gesprochen und der wollte, soweit ich weiß, mit Ihrem Chef darüber sprechen. Versuchen Sie also nicht, mich noch einmal zu bluffen!«
»Okay, wir können das auf verschiedene Arten machen, Robertson«, sagte Harry, merkte aber, daß er als Wüstling nicht die gleiche Autorität hatte wie Andrew. »Sie können mir hier und jetzt sagen, was ich wissen will, oder …«
»… oder ich kann Sie aufs Revier vorladen! Ja, danke, das hab ich mittlerweile verstanden. Also bitte, laden Sie mich vor, dann laß ich meinen Rechtsanwalt kommen, der mich in weniger als einer Stunde wieder herausholt und Sie und Ihre Kollegen als Zugabe noch wegen Belästigung und Verfolgung verklagt. Be my guest!«
»Sorry, aber daran hab ich nicht gedacht«, sagte Harry ruhig. »Ich habe eher an eine diskrete, undichte Stelle gedacht, kaum aufzuspüren natürlich, die einen guten Draht zu einer von Sydneys neuigkeitsgeilen und durchaus sensationshungrigen Sonntagszeitungen hat. Sie können sich das vielleicht vorstellen? ›Inger Holters Vermieter, siehe Foto, ein früher wegen Exhibitionismus verurteilter Mann, steht im Rampenlicht der polizeilichen Ermittlungen …‹«
»Verurteilt! Ich mußte ein Bußgeld zahlen, vierzig Dollar!« Hunter Robertsons Stimme überschlug sich.
»Ja, ich weiß, Robertson, das war ein kleiner Irrtum«, sagte Harry. »So klein, daß es sicher kein Problem für Sie war, das gegenüber Ihrer nächsten Umgebung bis heute geheimzuhalten. Um so trauriger, daß man in Ihrer Gegend Sonntagszeitungen liest, nicht wahr? Und auf der Arbeit … Wie verhält es sich mit Ihren Eltern? Können die lesen?«
Robertson sackte zusammen. Die Luft entwich aus seinen Lungen wie aus einem löchrigen Wasserball. Wie er so dasaß, erinnerte er Harry an einen Mehlsack, und er begriff, daß er Robertsons wunden Punkt getroffen hatte, als er seine Eltern erwähnte.
»Du herzloses Arschloch!« fauchte Robertson mit heiserer, gequälter Stimme. »Wo kommen nur solche Menschen wie du her?« Und nach einer Weile fügte er hinzu: »Was wollen Sie wissen?«
»Zu allererst will ich einmal wissen, wo Sie an dem Abend, bevor Inger gefunden wurde, gewesen sind.«
»Ich habe der Polizei doch bereits erzählt, daß ich alleine zu Hause war und daß …«
»Das wars dann wohl. Ich hoffe, daß die in der Redaktion ein schönes Bild finden.« Harry stand auf.
»Okay, okay, ich war nicht zu Hause!« Roberston schrie jetzt fast. Er legte den Kopf in den Nacken und schloß die Augen. Harry setzte sich wieder.
»Als ich Student war und ein Zimmer in einem der besseren Stadtviertel hatte, wohnte gegenüber, auf der anderen Straßenseite eine Witwe«, erzählte Harry, »jeden Freitagabend um sieben Uhr, genau sieben Uhr, zog sie die Gardinen zur Seite. Ich wohnte genau vis-à-vis von ihr, so daß ich geradewegs in ihre Wohnung hineinschauen konnte. Besonders freitags, wenn sie den gediegenen Kronleuchter einschaltete. Wenn man sie an den anderen Tagen der Woche sah, war sie eine leicht ergraute Frau mit Brille und Strickjacke, so eine, die man ständig in der Straßenbahn sieht oder in der Apotheke.
Aber freitags um sieben, wenn die Vorstellung begann, dachte man an alles andere als an griesgrämige alte Damen mit Stock. Dann trug sie einen seidenen Morgenrock mit einem japanischen Muster und hochhackige, schwarze Schuhe. Um halb acht bekam sie Herrenbesuch. Um Viertel vor acht zog sie ihren Morgenrock aus und präsentierte ihr schwarzes Korsett. Und um acht Uhr hatte sie ihr Korsett abgelegt, und auf ihrem Chesterfield-Sofa ging es voll zur Sache. Um halb neun war der Besucher verschwunden, die Gardine vorgezogen und die Vorstellung beendet.«
»Interessant«, sagte Robertson sarkastisch.
»Was daran vor allem interessant war, ist die Tatsache, daß es nie irgendwelchen Ärger gegeben hat. Wohnte man auf meiner Seite der Straße, war es kaum zu vermeiden, alles mitzubekommen, und die meisten meiner Nachbarn verfolgten die Vorstellung wohl regelmäßig. Aber es wurde, soweit ich weiß, nie darüber geredet, sie wurde auch nicht der Polizei gemeldet oder angezeigt. Außerdem war die Regelmäßigkeit der Vorstellung bemerkenswert. Zuerst dachte ich, das hätte mit ihrem Partner zu tun, damit, wann er Zeit hatte, vielleicht arbeitete er ja oder war verheiratet, aber schließlich stellte ich fest, daß ihre Partner wechselten, nicht aber die Zeiten ihrer Aktivität. Und da habe ich es verstanden: sie hatte ganz einfach begriffen, was alle TV- Sender wissen – wenn man erst einmal das Publikum an einen bestimmten Sendezeitpunkt gewöhnt hat, ist es in höchstem Grade schädlich, die Zeiten zu ändern. Und es war ja gerade das Publikum, das ihrem Sexualleben die Würze gab. Verstanden?«
»Ich verstehe«, sagte Robertson.
»Eine überflüssige Frage, natürlich. Nun, warum ich diese Geschichte erzählt habe? Sie ist mir wieder eingefallen, als unser schlafender Freund hier, Joseph, mit solch unerschütterlicher Sicherheit behauptete, Sie würden heute abend kommen. Und dann habe ich in meinem Kalender nachgesehen, und das meiste stimmte überein. Heute abend ist Mittwoch, Inger Holter verschwand an einem Mittwoch, und die zweimal, als man Sie erwischt hat, war das auch an einem Mittwoch. Sie haben feste Vorstellungen, nicht wahr?«
Robertson gab keine Antwort.
»Meine nächste Frage lautet deshalb: Warum sind Sie nicht öfter angezeigt worden? Das letzte Mal liegt schließlich vier Jahre zurück! Sich in einem Park vor kleinen Mädchen auszuziehen wird schließlich nicht von allen geschätzt!«
»Wer hat etwas von kleinen Mädchen gesagt«, fragte Robertson mürrisch, »und daß man das nicht schätzt?«
Wenn Harry hätte pfeifen können, er hätte leise gepfiffen. Er mußte plötzlich an das streitende Schwulenpärchen denken, das ihm früher am Abend ganz in der Nähe begegnet war.
»Sie machen das vor Männern«, sagte er, beinahe zu sich selbst. »Den Schwulen aus der Nachbarschaft. Das erklärt, warum Sie in Ruhe gelassen werden. Haben Sie auch ein festes Publikum?«
Robertson zuckte mit den Schultern.
»Die kommen und gehen. Aber die wissen jedenfalls, wann und wo sie mich sehen können.«
»Und die Anzeigen?«
»Irgendwelche zufällige Passanten, wir sind jetzt vorsichtiger.«
»Gehe ich recht in der Annahme, daß es hier heute abend ein paar Zeugen dafür gibt, daß Sie an dem Abend, als Inger verschwand, hier waren?«
Robertson nickte. Sie saßen schweigend nebeneinander und lauschten Josephs leisem Schnarchen.
»Es gibt noch etwas, das nicht ganz stimmt«, sagte Harry nach einer Weile. »Das schwirrt schon eine ganze Weile in meinem Hinterkopf herum, aber ich konnte es erst auf den Punkt bringen, als ich hörte, daß Ihr Nachbar jeden Mittwoch den Hund füttert und mit ihm Gassi geht.«