»Leichtsinnig?«
»Sie hat wohl einigen der Heterogäste hier den Kopf verdreht. Zog sich immer so verführerisch an, und ihre Blicke waren so … tief und vielleicht auch ein bißchen zu lang, wenn ihr das zu extra Trinkgeld verhalf. So was kann gefährlich werden.«
»Meinst du, daß einer der Gäste …?«
»Ich meine bloß, daß es sein kann, daß du vielleicht gar nicht so weit weg suchen mußt, Konstabel!«
»Wie meinst du das?«
Otto sah sich um und nahm den letzten Schluck von seinem Drink.
»Ach, ich rede doch einfach nur drauf los, handsome.« Er sammelte seine Sachen zusammen, um zu gehen. »So, nun gehe ich, wie du mir geraten hast, nach Hause und denke an andere Sachen, war es nicht das, was Sie mir verordnet hatten, Doktor?«
Er winkte einem der Stola-Jungs hinter der Bar zu, der ihm eine Papiertüte brachte.
»Denk an die Vorstellung!« rief Otto über die Schulter zurück, als er ging.
Das Albury war proppenvoll, und Harry setzte sich diskret an den Rand der Bar, um Birgitta bei der Arbeit zuzusehen. Er beobachtete ihre Bewegungen: die flinken Hände, die Bier zapften, Geld wechselten und Drinks mischten, die Art, wie sie ihren Körper hin- und herdrehte, die sicheren, entschlossenen Bewegungen hinter der Bar; alle Abstände schienen in ihrem Rückenmark gespeichert zu sein: vom Zapfhahn zur Kasse zum Tresen. Er sah, wie ihr das Haar ins Gesicht fiel, wie sie es mit einer flüchtigen Bewegung zur Seite wischte und ihr Blick in regelmäßigen Abständen über die Reihe der Gäste huschte, um neue Bestellungen entgegenzunehmen – und Harry im Blickfeld zu haben.
Das Sommersprossengesicht leuchtete auf, und er spürte, wie sein Herz schwer und warm in seiner Brust schlug.
»Gerade ist ein Freund von Andrew gekommen«, sagte sie, als sie zu ihm herüberkam. »Er hat ihn im Krankenhaus besucht und Grüße von ihm ausgerichtet. Er hat auch nach dir gefragt, ich glaube, er sitzt immer noch irgendwo. Ja, dort drüben ist er.«
Sie zeigte zu einem Tisch hinüber, und Harry erkannte sogleich den hübschen, schwarzen Mann. Es war Toowoomba, der Boxer. Er ging zu seinem Tisch hinüber.
»Störe ich?« fragte er und erhielt ein breites Lächeln als Antwort.
»Aber auf keinen Fall. Setz dich. Ich sitze hier eigentlich, um zu schauen, ob nicht irgendein alter Freund auftaucht.«
Harry setzte sich.
Robin Toowoomba, genannt »The Murri«, lächelte noch immer. Es entstand eine jener peinlichen Pausen, die niemand so recht wahrhaben will, und Harry beeilte sich, etwas zu sagen:
»Ich habe heute mit jemandem, der dem Krähen-Volk angehört, gesprochen. Ich wußte nicht, daß ihr solche Stammesnamen habt. Zu welchem Volk gehörst du?«
Toowoomba schaute ihn verwundert an.
»Was meinst du, Harry? Ich bin aus Queensland.«
Harry merkte, wie dümmlich sich seine Frage anhörte.
»Sorry, das war eine blöde Frage. Meine Zunge hat heute eine Tendenz, schneller zu sein als mein Gehirn. Ich wollte dich nicht … ich weiß ja nicht so viel über eure Kultur. Ich hab mich einfach gefragt, ob ihr alle zu bestimmten Stämmen oder so etwas gehört.«
Toowoomba klopfte Harry auf die Schulter. »Ich habe dich nur ein bißchen hochgenommen, Harry. Laß mal gut sein.« Er lachte still, und Harry fühlte sich noch unbeholfener.
»Du reagierst wie die meisten Weißen«, sagte Toowoomba. »Was sollte man auch anderes erwarten? Du steckst ja voller Vorurteile.«
»Vorurteile?« sagte Harry und spürte, daß er begann, unsicher zu werden. »Habe ich etwas gesagt, das …«
»Es geht nicht darum, was du gesagt hast«, sagte Toowoomba. »Es ist das, was du unbewußt von mir erwartest. Du glaubst, etwas Dummes gesagt zu haben, und ohne weiter darüber nachzudenken, erwartest du, daß ich wie ein verletztes Kind reagiere. Du kommst gar nicht auf die Idee, daß ich intelligent genug sein könnte, dir mit Toleranz zu begegnen, weil du Ausländer bist. Du bist doch wohl nicht persönlich beleidigt, wenn japanische Touristen in Norwegen nicht alles über dein Land wissen? Daß euer König Harald heißt, zum Beispiel!«
Toowoomba zwinkerte ihm zu.
»Das betrifft nicht nur dich, Harry. Selbst weiße Australier sind hysterisch darauf bedacht, nichts Falsches zu sagen. Das ist es, was so paradox ist. Erst haben sie unserem Volk den Stolz genommen, und jetzt, wo er weg ist, haben sie eine Heidenangst davor, ihn zu verletzen.«
Er seufzte und drehte Harry die großen weißen Handflächen zu. Als würde man eine Flunder umdrehen, dachte Harry.
»Aber erzähl mir lieber etwas über Norwegen, Harry. Ich habe gelesen, daß es dort so schön sein soll. Und kalt.«
Harry erzählte. Über Fjorde und Gebirge und die Menschen, die sich dazwischen angesiedelt hatten. Über die Union mit Dänemark, die Unterdrückung, Ibsen, Nansen und Grieg. Über das Land dort oben im Norden, das sich als wirtschaftskräftiges, fortschrittliches Volk ansah, am ehesten aber einer Bananenrepublik glich. Das Wald und Häfen hatte, als Holländer und Engländer Holz brauchten, das Wasserfälle hatte, als man die Elektrizität entdeckte, und das zu all dem noch direkt vor seiner Haustür auf Öl stieß.
»Wir hatten niemals so etwas wie Volvo oder Tuborg«, sagte Harry. »Wir haben bloß unsere Natur exportiert und aufgehört nachzudenken. Wir sind ein Volk mit vergoldeten Arschbacken«, sagte Harry, ohne auch nur zu versuchen, einen vergleichbaren englischen Ausdruck zu finden.
Und dann sprach er über Ändalsnes, einen kleinen Ort oben im Romsdal, umgeben von hohen Bergen, wo es so schön war, daß Mutter immer gesagt hatte, Gott habe hier sein Werk begonnen und so viel Zeit für die Natur im Romsdal aufgewendet, daß er den Rest der Welt Hals über Kopf hatte erschaffen müssen, um bis Sonntag fertig zu sein.
Wie es war, mit Vater morgens in aller Frühe auf dem Fjord fischen zu gehen oder am Ufer zu liegen und das Meer zu riechen – während die Möwen schrien und die Berge ringsherum wie stille Wachen ihr kleines Königreich beschützten.
»Mein Vater stammt aus Lejaskog, einem kleinen Ort noch weiter oben im Tal. Er und Mutter trafen sich bei einem Volksfest in Ändalsnes. Sie redeten ständig davon, als Pensionisten wieder nach Ändalsnes zu ziehen.«
Toowoomba nickte und trank Bier. Harry nippte an einem weiteren Grapefruitsaft. Sein Bauch begann, langsam sauer zu werden.
»Ich würde mich freuen, wenn ich dir erzählen könnte, woher ich stamme, Harry, es ist aber einfach so, daß solche wie ich keine Beziehung zu irgendeinem Ort haben. Ich bin in einer Hütte unter der Autobahn in einem Vorort von Brisbane groß geworden. Es gibt niemanden, der weiß, welchem Stamm mein Vater angehört hat, er kam und ging so schnell, daß es niemanden gelang zu fragen. Und meiner Mutter ist es egal, woher sie kommt, solange sie nur genug Geld für eine Flasche Wein auftreiben kann. Es muß reichen, daß ich ein Muni bin.«
»Und Andrew?«
»Hat er es dir nicht erzählt?«
»Was?«
Toowoomba zog seine Hände wieder zurück. Zwischen seinen Augen war eine tiefe Falte. »Andrew Kensington hat noch weniger Wurzeln als ich.«
Harry fragte nicht weiter, aber nach einem weiteren Bier fing Toowoomba selber wieder davon an.
»Im Grunde sollte er das selber erzählen, denn Andrew hat eine ganz spezielle Kindheit und Jugend hinter sich. Er gehört nämlich zu der familienlosen Generation der Aborigines.«
»Wie meinst du das?«
»Das ist eine lange Geschichte. Vor allem geht es um schlechtes Gewissen. Schon seit Anfang des Jahrhunderts ist die Ureinwohnerpolitik von dem schlechten Gewissen der Obrigkeit geprägt, weil unser Volk so vielen Übergriffen ausgesetzt war. Es ist einfach schade, daß guter Wille nicht immer reicht. Will man ein Volk regieren, muß man es verstehen.«
»Und die Aborigines sind nicht verstanden worden?«
»Es gibt Epochen der unterschiedlichsten Politik. Ich gehöre zu der zwangsurbanisierten Generation. Nach dem Zweiten Weltkrieg meinte die Regierung, daß man die frühere Politik ändern müsse, um zu versuchen, die Ureinwohner zu integrieren, statt sie zu isolieren. Sie versuchten das, indem sie kontrollierten, wo wir wohnten, ja sogar, wen wir heirateten. Viele wurden in Städte zwangsumgesiedelt, um sich der europäischen, urbanen Kultur anzupassen. Die Ergebnisse waren katastrophal. Im Laufe ganz kurzer Zeit stürmten wir alle üblen Statistiken: Alkoholismus, Arbeitslosigkeit, Ehescheidungen, Prostitution, Kriminalität, Gewalt und Drogen. You name it. Die Aborigines waren und blieben Australiens große Verlierer.«