»Und Andrew?«
»Andrew wurde vor dem Krieg geboren. Damals lief die Politik der Regierung darauf hinaus, uns zu ›beschützen‹, als wenn wir eine bedrohte Tierart wären. Wir hatten deshalb nur begrenzte Möglichkeiten, Land zu besitzen oder Arbeit zu suchen. Aber das Verrückteste war, daß das Gesetz der Obrigkeit das Recht gab, einer Aborigine-Mutter ihr Kind wegzunehmen, wenn es einen Verdacht gab, daß der Vater nicht Aborigine war. Wenn ich auch über meine Geschichte nicht gerade die fetteste Story erzählen kann, es gab auf jeden Fall eine. Andrew hat nichts. Er hat seine Eltern niemals gesehen. Sie haben ihn als Neugeborenen abgeholt und in ein Kinderheim gesteckt. Das einzige, was er weiß, ist, daß man seine Mutter kurz nach dem Kindesraub tot an einer Bushaltestelle fünf Meilen nördlich des Kinderheimes in Bankstown gefunden hat und daß niemand wußte, wie sie dorthin gekommen oder woran sie gestorben war. Der Name des weißen Vaters wurde vor Andrew geheimgehalten, bis es ihn nicht mehr interessierte.«
Harry versuchte, das alles zu begreifen.
»Und so etwas war wirklich vor dem Gesetz okay? Was ist mit der UNO, der Menschenrechtserklärung?«
»Das hat es alles erst nach dem Krieg gegeben. Und denk daran, daß die Aboriginepolitik ja guten Willens war, das Ziel war, die Kultur zu bewahren, nicht sie zu zerstören.«
»Was geschah weiter mit Andrew?«
»Sie fanden heraus, daß er ein guter Schüler war und schickten ihn auf eine Privatschule nach England.«
»Ich dachte, Australien sei nicht so elitär, daß man Schüler auf Privatschulen schickt?«
»All das wurde von der Obrigkeit gesteuert und bezahlt. Man wünschte sich wohl, daß Andrew zu einem Vorzeigeobjekt eines politischen Experimentes wurde, das ansonsten nur zu Schmerz und menschlichen Tragödien geführt hatte. Als er zurückkam, schrieb er sich in Sydney an der Universität ein. Da begannen sie, die Kontrolle über ihn zu verlieren. Er hatte ein paar Schwierigkeiten, galt bald als gewalttätig und bekam schlechte Noten. Soweit ich weiß, hat das irgendwie mit einer unglücklichen Liebe zu tun, einer Weißen, die ihn verließ, weil ihre Familie nicht mit ihm einverstanden war … Andrew wollte nie darüber reden. Es war so oder so eine schwarze Periode in seinem Leben, und es hätte sicher alles viel schlimmer kommen können. In England hatte er gelernt zu boxen. Er behauptete immer, nur so habe er das Internat überleben können. Auf der Universität fing er wieder mit dem Boxen an, und als man ihm anbot, mit Chivers auf Tournee zu gehen, ließ er das Studium sausen und kehrte Sydney für eine Weile den Rücken.«
»Ich habe ihn gerade boxen gesehen«, sagte Harry. »Er hat nicht viel verlernt.«
»Er hatte das Boxen eigentlich nur als eine Art Unterbrechung angesehen, ehe er sein Studium wiederaufnahm, aber er hatte Erfolg bei Chivers, und die Presse begann sich für ihn zu interessieren, und so machte er weiter. Als er sich bis ins Finale der australischen Meisterschaft vorboxte, kamen sogar ein paar Profiagenturen aus Amerika herüber, um ihn sich anzuschauen. Aber irgend etwas ist an dem Abend vor dem Finale in Melbourne geschehen. Sie waren in einem Restaurant, und jemand sagte, Andrew habe die Freundin des anderen Finalisten angemacht. Er hieß Campbell und war mit einer tollen Frau aus dem Norden von Sydney zusammen, die später Miß New South Wales wurde. Es kam zu einer Prügelei in der Küche, an der Andrew, Campbeils Trainer, sein Agent und noch irgendein Kerl beteiligt waren. Dabei ging so ziemlich alles drauf, was dort zu finden war.
Sie fanden Andrew über dem Waschbecken hängend mit aufgerissener Lippe, einem Schnitt in der Stirn und verstauchtem Handgelenk. Es gab keine Anzeige, daher stammt wohl das Gerücht, daß sich Andrew an der Geliebten von Campbell vergriffen habe. Auf jeden Fall mußte Andrew seine Teilnahme an dem Finale zurückziehen, und danach schien die Luft aus seiner Karriere raus zu sein. Er hat zwar noch bei anderen Turnieren ein paar gute Boxer schlagen können, aber die Presse hatte das Interesse an ihm verloren, und die Profiagenturen haben sich nie wieder blicken lassen.
Schließlich hat er nicht mehr auf Turnieren geboxt, ein neuerliches Gerücht behauptete, er trinke, und nach einer Tournee an der Westküste bat man ihn, bei Chivers aufzuhören, wahrscheinlich weil er es ein paar Amateuren zu heftig gezeigt hatte. Danach verschwand Andrew, es ist schwierig, von ihm etwas über diese Zeit zu erfahren, aber er ist wohl irgendwie ein paar Jahre lang ohne richtiges Ziel durch Australien getingelt, bevor er wieder an der Universität zu studieren begann.«
»Mit dem Boxen hat er also aufgehört?« fragte Harry.
»Ja«, antwortete Toowoomba.
»Und wie ist es dann weitergegangen?«
»Tja.« Toowoomba signalisierte der Bedienung, daß er gerne die Rechnung haben wollte. »Andrew war, nachdem er sein Studium wiederaufgenommen hatte, wohl motivierter als zuvor, und eine Weile ging es gut. Aber inzwischen waren die siebziger Jahre angebrochen, die Hippiezeit, die Zeit der Partys und der freien Liebe, und es ist gut möglich, daß er da verbotene Sachen in zu großen Mengen konsumiert hat. Die Stoffe erwiesen sich als langfristig nicht sonderlich leistungsfördernd, und die Examen fanden ja trotzdem statt.«
Er schmunzelte vor sich hin.
»Also, eines Tages erwachte Andrew, stand auf, schaute in den Spiegel und zog ein Fazit. Er hatte einen gewaltigen Kater, ein blaues Auge, dessen Herkunft ihm ein vollkommenes Rätsel war, war inzwischen über dreißig, ohne ein einziges Examen und ein vermutlich steigendes Abhängigkeitsverhältnis zu gewissen chemischen Substanzen. Hinter ihm lag eine gescheiterte Boxkarriere und vor ihm, gelinde gesagt, eine unsichere Zukunft. Und was machst du dann? Du bewirbst dich bei der Polizei.«
Harry lachte.
»Ich zitiere lediglich Andrew«, sagte Toowoomba. »Erstaunlicherweise wurde er trotz seines Vorstrafenregisters und des hohen Alters angenommen, vielleicht, weil die Regierung sich einen höheren Anteil an Aborigines bei der Polizei wünschte. Andrew schnitt sich also die Haare ab, nahm den Ring aus dem Ohr und verzichtete auf die Chemikalien. Den Rest kennst du. Als Karrieremensch ist er natürlich untauglich, aber er gilt trotzdem als einer der besten Ermittler in ganz Sydney.«
»Zitierst du noch immer Andrew?«
Toowoomba lachte.
»Natürlich.«
Auf der Bühne hinten lief das Finale der täglichen Stripteaseshow mit »Y.M.C.A.« von den Village People, ein sicherer Erfolgssong.
»Du weißt viel über Andrew«, sagte Harry.
»Andrew ist für mich fast wie ein Vater«, sagte Toowoomba. »Als ich nach Sydney zog, hatte ich keine anderen Pläne, als möglichst weit von zu Hause wegzukommen. Ich wurde von Andrew buchstäblich auf der Straße aufgelesen, und er begann mich und ein paar andere Jungs, die in der Gosse gelandet waren, zu trainieren. Er war es auch, der mich dazu brachte, wieder an der Universität anzufangen.«
»Oha, noch ein studierter Boxer?«
»Englisch und Geschichte. Mein Traum ist es, eines Tages mein Volk zu unterrichten.« Er sagte das mit Überzeugung und Stolz.
»Und bis dahin willst du besoffenen Seeleuten und Bauerntölpeln den Mist aus dem Hirn klopfen?«
Toowoomba lächelte.
»Man braucht Startkapital, um es in dieser Welt zu etwas zu bringen, und ich habe nicht die Illusion, als Lehrer viel zu verdienen. Aber ich boxe nicht nur gegen Amateure. Ich habe mich für die australische Meisterschaft in diesem Jahr angemeldet.«